Den Taoismus zeichnet kritisches Denken aus

Frédéric Lenoir hebt als wesentliche Tugend die Flexibilität hervor. Denn die Biegsamkeit des Körpers ist wichtig, um sich gut zu bewegen. Doch geistige Biegsamkeit ist genauso wichtig, um gut zu leben. Flexibilität, also die Fähigkeit, sich jeder Situation anzupassen, scheint für Frédéric Lenoir eine wesentliche Voraussetzung für Weisheit zu sein. Sie fehlt zwar in der abendländischen Tradition, doch ist sie die Grundlage einer großen chinesischen Weisheitsströmung, die Frédéric Lenoir sehr gefällt: des Taoismus. Die taoistische Philosophie ist in China um das 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden und entwickelt sich als Gegenstück zum offiziellen konfuzianischen Denken. Dabei handelt es sich um eine Form des undogmatischen, skeptischen und kritischen Denkens. Sie basiert auf Werten, die paradox erscheinen, wie die Macht des Schwachen, die Weisheit des Kindes oder der Wirksamkeit des Nichthandelns. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Die Biegsamkeit ist die Haupttugend des Taoismus

Doch die Haupttugend, von der einer ihrer wichtigsten Gründer spricht, Zhuangzi, ist die Biegsamkeit. Der Weise ist biegsam, flexibel und anpassungsfähig. Es ist niemals festgefahren in seinem Denken oder in seinem Betragen. Er gewöhnt sich somit daran, im Inneren die ständige Bewegung des Lebens auszugleichen, anstatt ihr durch dogmatisches Denken oder eine starre Haltung widerstehen zu wollen. Im Gegensatz zum konfuzianischen Denken besteht für Taoisten die Weisheit nicht darin, einer perfekten kosmischen Ordnung zu folgen.

Taoisten geben sich eher freudig dem überbordenden, chaotischen, unruhigen und unvorhersehbaren Strom des Lebens auf der Erde hin. Die taoistische Weisheit ist folglich nicht Weisheit der Ordnung, sondern der Unordnung. Sie predigt nicht Stabilität, sondern Bewegung. Sie rühmt die Spontaneität, das Biegsame, Flüssige, um Harmonie zu finden, nicht nur mit einer starren kosmischen Ordnung, sondern auch mit der Fülle des Lebens selbst.

Den Taoismus prägen Spontaneität und Leichtigkeit

Frédéric Lenoir schreibt: „Darin liegt der Schlüssel des wahren Glückes, der höchsten Freude. Wir finden in dieser Weisheit einen fundamentalen Gedanken wieder, den wir schon entwickelt haben: Akzeptanz, Loslassen, „Ja“ zum Leben sagen.“ Aber hier erscheint dieser Gedanke in einer undogmatischen, freudigen Perspektive, getragen von Spontaneität und Leichtigkeit. So wie kleine Kinder das Leben betrachten. Sind Tugenden naturgegeben und wie kann man sie entwickeln?

Dank der Tugenden kann der Mensch das gesamte ethische Potential seiner menschlichen Natur entfalten. Die Mehrzahl der Moralisten denkt, dass dieses Potential sich allein der Erziehung verdanke. Das ist unumstritten, doch ist ebenso gewiss, dass sich natürliche Anlagen wie gerecht, maßvoll, mutig und klug zu sein, je nach Individuum unterscheiden. Und genauso ist es mit dem Sinn für Humor, Großzügigkeit, Mitgefühl und so weiter. Jeder Einzelne trägt dafür unterschiedliche Anlagen und Ausdrucksformen in sich. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies

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