Ängste sind in Deutschland weit verbreitet

Der bayerische Kulturpolitiker Dieter Sattler beschriebt im Jahr 1947 in den „Frankfurter Heften“ die Angst als eine „deutsche Krankheit“, als nationale Pathologie: „Unser Volk hat beinahe vor allem Angst. Es ist seelisch schwer erkrankt.“ Dieter Sattler war überzeugt, dass „jeder, der uns von der Angst heilt, Deutschland ernstlich heilt. Demokratie war für ihn gleichbedeutend mit der „Freiheit vor der Angst“. Frank Biess ergänzt: „Der Erfolg der Demokratie im Nachkriegsdeutschland hing demnach von der Überwindung der Angst ab.“ Die Geschichte der Bundesrepublik ist also auch eine Geschichte ihrer Ängste. Dieter Sattlers Beobachtungen waren nur eine von vielen ähnlichen Diagnosen einer tiefen Unsicherheit und Angst in der Nachkriegsgesellschaft. Frank Biess ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California, San Diego.

Der „Angstindex“ erreichte 2016 seinen Höchstwert

Diese Selbstwahrnehmung einer spezifisch deutschen Angst war ein integraler Bestandteil der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik. Außerdem war sie ein wichtiger Aspekt der politischen Kultur vor 1989, der auch noch in die Berliner Republik hineinragt. Wie eine Serie von anscheinend nicht enden wollenden Angstzyklen mit immer neuen Objekten – Finanzkrise, Einwanderung, Terrorismus – belegt, hat die Geschichte der Angst in der Bundesrepublik kein Ende. Seit 1992 führt die R+V Versicherung eine jährliche Studie zu den Ängsten der Deutschen durch. Im Jahr 2016 erreichte der dabei ermittelte „Angstindex“, das heißt der Durchschnitt aller Ängste, einen vorläufigen Höchstwert.

Frank Biess nimmt in seinem Buch „Republik der Angst“ den zeitgenössischen Diskurs zur „deutschen Angst“ als Ausgangspunkt, um die Geschichte der Bundesrepublik neu zu erzählen. Die „German Angst“ als spöttische Außenzuschreibung durch die Nachbarn Deutschlands ist dabei jüngeren Datums. Sie entstand erst während der achtziger Jahre. Aber die deutsche Angst war immer auch Teil der Selbstwahrnehmung. Das beginnt in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Die Deutschen erlebten 1945 einen „kollektiven Schock“

Die Diagnosen unterschieden sich in der Erklärung der Genese dieser Ängste wie in deren Bewertung. Frank Biess erläutert: „Einige Beobachter erkannten darin eine Form der nationalen Neurose. Andere wiederum sahen diese Ängste als durchaus berechtigt an.“ Unabhängig von der zeitgenössischen Bewertung verweist jedoch die schiere Existenz dieses selbstreferentiellen Diskurses zur deutschen Angst auf eine weitgehende Verunsicherung und Zukunftsungewissheit in der westdeutschen Gesellschaft.

Derartige Selbstbeschreibungen mögen wesentliche Bestandteile der politischen Verfasstheit moderner Gesellschaften sein. Im Gefolge von Nationalsozialismus und Holocaust, totalem Krieg und totaler Niederlage nahmen sie für die Deutschen allerdings eine besondere Bedeutung an. Deren Selbstreflexion was wesentlich bedingt durch einen „kollektiven Schock“. Dieser blieb über eine spezifische Form kollektiver Erinnerung nach 1945 immer präsent. Mehr als Angehörige anderer Nationen hatten die Deutschen nach Kriegsende gute Gründe, ihre Aussicht auf und Befähigung für Demokratie, Wohlstand und Frieden in Frage zu stellen. Quelle: „Republik der Angst“ von Frank Biess

Von Hans Klumbies