Das Lesen tritt immer mehr in den Hintergrund

Das Lesen ist immer noch allgegenwärtig, wird durchgängig pädagogisch gelobt, ist immer noch Kern der Bildung, kennt aber leider kaum noch eine praktische oder kommunizierte Kultur. Wann soll man lesen, und wenn ja, wie viel? Walter Benjamin sah noch im Studenten den Urtyp des Sammlers – weil Studierende Wissen suchen, sammeln und ordnen. Wer den Hochschulbetrieb wie Frank Berzbach kennt, der weiß, dass die Bildungsidee lange durch die der bloßen Qualifikation ersetzt wurde: „Die bedarf aber weniger der strengen Lektüre, sondern eher der Fähigkeit zur schnellen Recherche. Da Google alles zu wissen scheint, wird das Gedächtnis narkotisiert, die Aufmerksamkeitsspanne wird geringer.“ Das alles mag für den Arbeitsmarkt wichtig sein, für den Zugang zur Schönheit ist diese Entwicklung hinderlich.“ Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

Studieren ist leider keine Lebensform mehr

Es liegt in der Natur dieser Veränderung, dass der gewöhnliche Leser Romanen wie „Bleak House“, „Krieg und Frieden“ oder „Die Brüder Karamasoff“, in denen es mehr als einen Protagonisten gibt, nicht mehr folgen kann. Nun ist in Bezug auf das Lesen die Disziplin in den Hintergrund geraten: Man muss es einfach tun. Frank Berzbach fragt: „Wieso beginnt nicht der Tag jedes Studenten mit zwei Stunden konsequenter Lektüre? Von sechs bis acht Uhr wäre dafür Zeit, dann das Frühstück und alles Weitere.“

Wem das zu ehrgeizig scheint, sollte sich fragen. Hat das Studium nichts mehr mit Ehrgeiz zu tun? Sondern nur noch damit, dass es angenehmer ist als die Realität außerhalb der Uni und der Verdienst nach dem Studium höher? Studieren ist leider für viele gar keine Lebensform mehr, sondern nur noch Verlängerung der Schulzeit. Über das Lesen müsste man also nachdenken. In ihm verbergen sich ungeahnte Schätze der Schönheit, aber sie liegen etwas tiefer und den langen Atem, zu ihnen hinunterzutauchen, haben wenige.

Nur ein ausgeglichener Geist kann die Schönheit wahrnehmen

Frank Berzbach stellt fest: „Der Ungeduldige will schnelles Feedback, keine langsam Kontur gewinnende Schönheit.“ Dennoch kann man die Romanzyklen von Marcel Proust, William Faulkner, Uwe Johnson und Peter Kurzeck lesen. Man muss es einfach nur tun. Man wird es wollen und es wird sich lohnen. Viele Menschen zeigen heutzutage an Spiritualität Interesse, um die Meditation steht es also nicht grundsätzlich schlecht. Würde diese Begeisterung auch in Bezug auf das Lesen zurückkehren, das immer erquicklicher ist, als bloß vor dem Fernseher zu hängen, könnte die Harmonielehre des Heiligen Benedikt ihre Wirkung entfalten.

Und sie hätte Wirkung auf die Fähigkeit, Schönheit wahrzunehmen. Aber nur ein ausgeglichener Geist kann sie wahrnehmen. Frank Berzbach erläutert: „Ob sich einem die Schönheit erschließt, hängt also davon ab, wie weit unser Sensorium dafür entwickelt ist. Nur weil in unseren Anlagen die Fähigkeit, Schönheit zu erfahren, schlummert, bedeutet das nicht, dass sie sich bei jedem gut entwickelt.“ Der nackte Überlebenskampf, permanente Angst, zu harte Konkurrenz, Flucht, Zerstreuung, Hunger, die Niedertracht anderer oder tosender Lärm versperren den Weg zu Schönheit. Quelle: „Die Form der Schönheit“ von Frank Berzbach

Von Hans Klumbies