Die Begriffe „Differenz“ und „Identität“ sind ein altes, von der Philosophie geerbtes Begriffspaar, das seit den alten Griechen auf der Erkenntnisebene erfolgreich funktioniert. François Jullien glaubt allerdings, dass eine Debatte, bei der es um die kulturelle „Identität“ geht, mit einem Geburtsfehler behaftet ist. Daher schlägt er eine konzeptuelle Verschiebung vor: „Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mithilfe des Konzepts des „Abstands“ nähern; wir sollten sie nicht im Sinn von „Identität“, sondern im Sinn einer „Ressource“ und der „Fruchtbarkeit“ verstehen.“ Sowohl der Abstand als auch die Differenz markieren eine Trennung; die Differenz setzt dabei jedoch auf eine „Unterscheidung“ während der Abstand den Blick auf eine „Entfernung“ richtet. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.
Der Abstand ist eine Denkfigur der Exploration
Daraus folgt für François Jullien, dass die „Differenz“ klassifikatorisch ist, die Analyse funktioniert über Ähnlichkeiten und Unterschiede; zugleich ist sie identifizierend: Indem man „von Unterschied zu Unterschied“ voranschreitet, wie Aristoteles sagt, gelangt man zu einem letzten Unterschied, der das in seiner Definition ausgedrückte Wesen des Dings zu erkennen gibt. Demgegenüber erweist sich der „Abstand“ als eine Denkfigur nicht der Identifikation, sondern der Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert.
Folglich hat der Abstand keine klassifikatorische Funktion, anders als bei der Klassifikation werden keine Typologien erstellt, vielmehr besteht das Ziel gerade darin, über diese hinauszugehen: Mit dem Abstand verbindet sich kein Zurechtrücken, sondern ein „Verrücken“. Während die Differenz auf Beschreibung abzielt und daher zu „bestimmen“ versucht, beginnt die Abweichung mit einer „Ermittlung“: Sie will herausfinden – sondieren –, bis wohin andere Wege führen können. Sie ist auf Abenteuer aus.
Der Abstand ist etwas Wertvolles
Die Differenz, die mit Unterscheidungen vorangeht, trennt eine Art von anderen Arten und stellt über Vergleiche fest, was ihre Besonderheit ausmacht. Sie setzt eine übergeordnete Gattung voraus, innerhalb welcher die Differenz sich zeigt, und bestimmt so die Identität. Beim „Abstand“ bleiben die einmal unterschiedenen und somit getrennten Terme auch weiterhin im Blickfeld – gerade deshalb ist es so wertvoll, den Abstand zu denken. Die zwischen ihnen zutage getretene Distanz hält das einmal Getrennte auch weiterhin in Spannung.
François Jullien schreibt: „Es stimmt, das wir das „Zwischen“ nicht denken können. Denn das „Zwischen“ hat kein „Sein“. Das ist der Grund, warum uns dieser Gedanke so lange entgangen ist.“ Weil die Griechen das „Sein“ im Sinne des Seins – das heißt im Sinne von Bestimmung und Eigenschaft – gedacht haben, waren sie nicht in der Lage, das „Zwischen“ zu denken, das weder das eine noch das andere ist, wo jedes von seinem anderen überzogen, seines An-sich und seiner „Eigenheit“ enthoben ist. Quelle: „Es gibt keine kulturelle Identität“ von François Jullien
Von Hans Klumbies