François Jullien verteidigt die kulturelle Fruchtbarkeit Europas

François Jullien verteidigt keine kulturelle Identität, sei es denn eine französische oder eine europäische, würde dies doch voraussetzen, dass man sie durch Unterschiede definieren, in ihrem Wesen fixieren oder in Begriffen der Zugehörigkeit bestimmen kann, also dass ich „meine“ Kultur besäße. François Jullien ergänzt: „Ich werde vielmehr die kulturelle Fruchtbarkeit Frankreichs und Europas verteidigen, wie sie sich durch erfinderische Abstände/Abweichungen entfaltet hat. Ich verteidige sie, weil ich ihr das wegen meiner Erziehung schulde und weil ich folglich für ihre Entfaltung und Weitergabe mitverantwortlich bin.“ Und dennoch wird sie François Jullien niemals besitzen. Ist es nicht offensichtlich, dass es oft Fremde sind, die für diese Ressourcen und diese Fruchtbarkeit ein besonderes Gespür haben? François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

Eine Kultur entwickelt sich stets auf lokaler Ebene

Dennoch ist es, wie schon Friedrich Nietzsche betont hat, richtig, dass eine Kultur stets in einem bestimmten Gebiet, in einem bestimmten Milieu entsteht und sich entwickelt. Sie ereignet sich stets lokal, in einer Nähe und in einer Landschaft: in einer Sprache und einer Atmosphäre, die ihre Prägnanz ausmachen. Noch passender als „lokal“ erscheint François Jullien dabei der Begriff „fokal“: Kultur entfaltet sich stets von so etwas wie einem „Herd“ („foyer“) aus, durch das Singuläre hindurch – denn nur das Singuläre ist kreativ.

Die Entfaltung einer Kultur hängt auch von den Umständen ab: beispielsweise von den Gegebenheiten im Florenz der Medicis oder im jüdischen Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Anschließend stehen diese Ressourcen jedoch allen zur Verfügung. François Jullien verteidigt diese Ressourcen umso leidenschaftlicher, weil sie heute bedroht sind. Es gilt, Widerstand zu leisten und zwar an zwei Fronten: da, wo das Uniforme als scheinbar Universelles missverstanden wird; und dort, wo das Gemeinsame nicht mehr vom Universellen getragen wird und sich in sein Gegenteil verkehrt: die Abkapselung kulturell oder auf andere Weise definierter Gemeinschaften.

Die Vielfalt der Sprachen zählt zu den Ressourcen des Denkens

Zudem muss man gegen die Verarmung der Kulturen, ihre durch die globale und kommerzielle Uniformisierung hervorgerufene Verflachung ankämpfen. Es ist schließlich der Markt, der die „Welt macht“. Derselbe „Harry Potter“ findet sich stapelweise in jedem Winkel der Welt und formt die Fantasie der Jugend überall auf dieselbe Weise – und das zunehmend in der neuen Einheitssprache „Globisch“. So ist dieser Widerstand zunächst einer der „Sprachen“. Wenn die Menschheit nur noch eine Sprache spricht, wenn die fruchtbaren Abstände zwischen den Sprachen verloren gehen, können diese sich nicht länger wechselseitig reflektieren.

Die Sprachen werden dann ihre jeweiligen Ressourcen nicht mehr zu erkennen geben. François Jullien erläutert: „Wir denken dann nur noch in standardisierten Begriffen, die uns dazu verleiten, das für universell zu halten, was eigentlich nur Stereotype des Denkens sind. „Babel“ ist in Wirklichkeit eine Chance für das Denken.“ Unter dem Vorwand, die Kommunikation werde dadurch einfachen und bequemer, lässt die Menschheit im Rahmen einer stillen Transformation eine Enteignung der Ressourcen des Denkens zu, die vor allem in der Sprache enthalten sind: in der Vielfalt der Sprachen und ihren produktiven Abweichung. Quelle: „Es gibt keine kulturelle Identität“ von François Jullien

Von Hans Klumbies