François Jullien sucht das Universelle

Das Konzept des Universellen, das die Entwicklung der europäischen Kultur getragen hat, gerät heute von zwei Seiten unter Druck. François Jullien kennt sie: „Zunächst stößt es in der Begegnung mit anderen Kulturen auf einen Selbstwiderspruch. D zeigt sich, dass es seinerseits das Produkt einer einzigartigen Geschichte des Denkens ist. Darüber hinaus erweist ein Blick auf ihre gesamte Dauer, dass die einzigartige europäische Geschichte, aus der es hervorgegangen ist, gar nicht so notwenig war, wie implizit behauptet.“ Sobald man nämlich die philosophische Perspektive im engeren Sinn verlässt und die Herausbildung des Begriffs im Rahmen der – allgemeineren – kulturellen Entwicklung dessen betrachtet, was später zu Europa werden sollte, sieht man, dass der Aufstieg des Universellen sich einer bunten, um nicht zu sagen chaotischen Geschichte verdankt. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

Das Universelle setzt sich aus Schichten zusammen

Diese Geschichte geht von unterschiedlichen Ebenen aus. Diese widersprechen sich manchmal sogar. Deshalb hat man Schwierigkeiten hat zu erkennen, was sie eigentlich im Inneren zusammenhält. François Jullien nennt drei davon: „Die philosophische (griechische) Ebene der Konzepte. Die juristische (römische) der Bürgerrechte. Und die religiöse (christliche) des Heils.“ Man muss in großen Zügen eine Art „Archäologie“ vornehmen, um herauszufinden, aus welchen Schichten heraus sich ein derartiges Universelles konstruiert hat.

Nur danach kann man entscheiden, ob man noch daran festhalten will. Der Ausgangspunkt ist für François Jullien jedenfalls klar: Die erste Ebene des Aufstiegs des Konzepts des Universellen ist die des Konzepts selbst. Das heißt: Die Durchsetzung des Begriffs des Universellen als Konzept ist untrennbar mit der Durchsetzung der Konzepte als nützliche Instrumente der Philosophie verbunden. Das ist ein Erbe, das Europa bis heute prägt. Die Griechen wollten zuerst das „Ganze“ der Welt zum Ausdruck bringen. Und sie wollten sich dieses „Ganzen“ in einer entschiedenen, ja übereilten Geste im Geist bemächtigen.

Die Philosophie konzentriert sich auf das Universelle

Auf der ersten Seite seiner „Metaphysik“ lässt zum Beispiel Aristoteles das Individuelle der Empfindung hinter sich. Er schwingt sich dabei zum abstrakten, das Wissen konstituierenden Universellen empor. Auf diesem hat sich in Europa die Wissenschaft begründet. Denn genau das sollte ihr Anspruch werden: Während die gewöhnliche Meinung die Dinge im Modus des Zufälligen betrachtet, sich also auf jene Aspekte konzentriert, die auch anders sein könnten, betrachtet die Wissenschaft die Dinge im Modus des Notwendigen, also folglich des Universellen, das eben nicht anders sein kann.

Wenn die Wissenschaft sich ihrem Anspruch nach vom Regime der gewöhnlichen Meinungen unterscheidet, dann hat das allerdings nichts damit zu tun, ob die entsprechenden Aussagen nun wahr oder falsch sind, sondern mit der Notwendigkeit, die den Aussagen der Wissenschaft eignet, sobald sie Zugang zum Reich des Universellen haben. Während die Wissenschaft und die Philosoph sich ganz auf das Universelle konzentrieren, holt die Literatur das Individuelle, vom Universellen Vernachlässigte wieder ins Bild. Zugleich bringt sie die dem Leben inhärente „Mehrdeutigkeit“ zurück, die das „Absolute“, das aus dem Universellen hervorgegangen ist, hat fallengelassen. Quelle: „Es gibt keine kulturelle Identität“ von François Jullien

Von Hans Klumbies