Ideen waren laut Francis Fukuyama wichtig, um den Aufstieg des Nationalismus zu verstehen. Doch außerdem fanden bedeutende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen statt. Diese bereiteten seinem Erscheinen in Europa des 19. Jahrhunderts den Boden. Francis Fukuyama blickt zurück: „Die europäische Ordnung des Mittelalters war hierarchisch und nach sozialen Klassen gegliedert gewesen.“ Der Feudalismus teilte die Bevölkerungen Europas zahllosen winzigen Gerichtsbarkeiten zu. Und er war darauf angelegt, sie an ihrem jeweiligen Ort festzuhalten. Eine moderne Marktwirtschaft ist im Unterschied dazu auf die freie Bewegung von Arbeitskräften, Kapital und Ideen angewiesen. Eine umfassende Anerkennung liberaler Gesellschaften war besonders für die kapitalistische Entwicklung förderlich. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Gegenüber der eigenen Kultur besteht Loyalität
Denn sie schützte die Freiheit der Individuen, dem Handel unabhängig vom Staat nachzugehen, und garantierte das Recht auf Privateigentum. Deshalb überrascht es Francis Fukuyama nicht, dass der Liberalismus zum Diener des Wirtschaftswachstums wurde. Die beiden liberalsten Gesellschaften jener Zeit, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, im 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentliche Antriebskräfte der Industrialisierung waren. Aber eine moderne Marktwirtschaft benötigte auch so etwas wie den Nationalismus und eine auf der Nation basierende Identität.
Der Nationalismus als Doktrin besagt, dass politische Grenzen mit denen von Kulturgemeinschaften zusammenfallen sollen. Wobei Kultur überwiegend durch eine geteilte Sprache definiert ist. Der moderne Mensch ist nicht loyal gegenüber einem Monarchen, einem Land oder einem Glauben, was immer er selber sagen mag, sondern gegenüber einer Kultur. Francis Fukuyama fügt hinzu: „Zudem ging der Nationalismus aus akuten, von der Industrialisierung bewirkten Ängsten hervor.“ Millionen Europäer erleben jenen Umschwung im 19. Jahrhundert. Heute kann man ihn in sich rapide industrialisierenden Ländern wie China und Vietnam beobachten.
Der Nationalismus wurzelt in der Modernisierung
Die psychische Entwurzelung, verursacht durch den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, war die Grundlage für eine Ideologie des Nationalismus. Diese fußte auf der hochgradigen Verklärung einer vermeintlich starken Gemeinschaft, in der die Spaltungen und Konfusionen der pluralistischen modernen Gesellschaft noch nicht existierten. Lange vor dem Aufstieg Adolf Hitlers in den dreißiger Jahren beklagten deutsche Schriftsteller den Verlust der Gemeinschaft. Zudem kritisierten sie das, was sie für die Perversionen einer kosmopolitischen liberalen Gesellschaft hielten.
Sowohl der Nationalismus als auch der Islamismus wurzeln in der Modernisierung. Die Verschiebung von der Gemeinschaft zur Gesellschaft findet derzeit im Nahen Osten statt. Bauern oder Beduinen aus den Landregionen ziehen in Städte wie Kairo, Amman oder Algier. Zudem gerieten Millionen Muslime mit der Modernisierung in Kontakt, da sie auf der Suche nach einem besseren Leben in europäische oder andere westliche Länder auswanderten. Das Problem der Identität ist besonders akut für junge Muslime der zweiten Generation, die in westeuropäischen Einwandererkreisen aufwachsen. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama
Von Hans Klumbies