Die meisten Menschen können die Gefühle ihrer Mitmenschen erkennen

Die Wirksamkeit rationaler Emotionen hängt in hohem Maße davon ab, ob andere Menschen solche Emotionen erkennen können und – was sogar noch wichtiger ist – ob sie von deren Aufrichtigkeit überzeugt sind. Eyal Winter weist darauf hin, dass Menschen manchmal bewusst authentische Gefühle in sich erwecken können, und sei es aus strategischen Gründen. Die meisten Menschen können die Gefühlszustände ihrer Mitmenschen erkennen. Eyal Winter betont: „Ohne diese Befähigung wären wir in unserem Interaktionsvermögen stark eingeschränkt. Unsere Fortpflanzungsfähigkeit wäre beschnitten, wenn wir nicht merken würden, ob andere uns anziehend finden.“ Selbst das rein physische Überleben, das zu einem großen Teil von gesellschaftlichen Beziehungen abhängt, wäre gefährdet, wenn man die Gefühle anderer nicht wahrnehmen und deuten könnte. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

Menschen bekunden ihren emotionalen Zustand am wirksamsten mit ihrem Gesicht

Die Fähigkeit, im Gesicht der anderen Gefühle abzulesen, entwickelte sich anscheinend sehr früh in der Herausbildung kognitiver Eigenschaften. Das Gesicht ist das wirksamste Mittel, mit dem der Menschen seinen emotionalen Zustand bekundet. In der realen Welt außerhalb der Laboratorien werden Menschen belohnt, wenn sie unehrliche Emotionen durchschauen, beziehungsweise bestraft, wenn sie sich irren – wobei die Belohnung nicht unbedingt finanzieller Art sein muss. In sozialen Situationen, die viel komplexer sind als Poker oder andere Spiele, ist eine viel präzisere Einfühlung erforderlich, um die Absichten anderer erkennen zu können.

Empathie, also die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle und Motive anderer, auch unvertrauter Menschen zu verstehen, ist für Eyal Winter ein wunderbares Phänomen mit sehr tiefen evolutionsgeschichtlichen Wurzeln. Unter Hirnforschern ist man sich weitgehend darüber einig, dass Empathie ein Ergebnis der Aktivität der Spiegelneuronen ist. Aber im Gegensatz zu motorischen Spiegelneuronen, die für körperliche Aktionen verantwortlich sind, wird Empathie durch emotionale Spiegelneuronen ausgelöst.

Bereits zweijährige Kinder verfügen über die Fähigkeit der Theory of Mind

Der Begriff „Theorie of Mind“ umschreibt die menschliche Fähigkeit, sich Vorstellungen von den Gefühlszuständen, Ansichten und Absichten einer anderen Person machen zu können. Theory of Mind gilt als wichtiges Merkmal, das Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Es ist bereits bei zweijährigen Kindern erkennbar, etwa wenn diese ihren Blick auf denselben Gegenstand in einem Raum richten, den andere um sie herum anschauen. Die Befähigung für Theory of Mind steigert sich im Alter von drei bis vier Jahren erheblich. Ein Kind in diesem Alter kann häufig zwischen dem unterscheiden, was es selbst weiß und was andere wissen.

Das Fehlen von Empathie und Theory of Mind ist ein häufiges Symptom autistischer Störungen und bedingt viele der Alltagsschwierigkeiten, mit denen Betroffene ringen. Die Fähigkeit, die Gedanken eines anderen zu lesen und die entsprechenden Signale zurückzusenden, ist ausschließlich emotional bedingt und bildet zugleich eine unerlässliche Grundlage für gute Entscheidungen, etwa bei der Frage: beim Poker Einsatz erhöhen oder aussteigen, Kompromisse eingehen oder hart bleiben, einen Kuss erwarten oder eine Ohrfeige. Quelle: „Kluge Gefühle“ von Eyal Winter

Von Hans Klumbies