Mensch und Gesellschaft wurden folgenreicher und vor allem viel schneller umgeformt als selbst durch die Industrialisierung. In eineinhalb Jahrzehnten sind die Bedingungen des Menschseins grundlegend andere geworden. Eva Menasse erläutert: „Die globale Digitalisierung ist daher die einzige und wahre Zeitenwende – eine solche kann niemals ausgerufen, sondern erst in der Rückschau bemerkt werden. Kein Krieg, keine Wirtschaftskrise, auch nicht die Pandemie hatten vergleichbare Auswirkungen.“ Die Art, wie Menschen die Welt wahrnehmen, ist eine andere geworden. Ihr Verhalten und ihre kognitiven Fähigkeiten haben sich ebenso verändert wie die Grundlagen des Zusammenlebens, die Ansprüche an-, die Ungeduld mit-, der Hass aufeinander. Peter Sloterdijk schreibt: „Die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, mit Milliarden Zeitgenossen in voller Kenntnis ihrer Gegenwart zu koexistieren.“ Die Romane der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse sind vielfach ausgezeichnet worden.
Die Globalisierung bringt den Triumpf der Indiskretion mit sich
Peter Sloterdijk fährt fort: „Früher wurden die Diskretionsabstände zwischen den Nationen und Kulturen durch die Geografie hergestellt. Schwer überwindbare Entfernungen sorgten für Diskretion, mental und politisch. Die Globalisierung bringt den Triumpf der Indiskretion mit sich.“ Eva Menasse stellt fest: „Peter Sloterdijk sagte Globalisierung, wo heute Digitalisierung gemeint wäre.“ Ein großer Gedanke, gelassen ausgesprochen: „in voller Kenntnis von Milliarden Zeitgenossen“. Mehr noch: Die Menschen waren vor allem nicht darauf vorbereitet, dass sie mit diesen Milliarden in Austausch treten können, ihnen zuhören müssen und auf sie Rücksicht nehmen sollen.
Eva Menasse ergänzt: „Bis heute haben sie kaum Zeit gefunden, die gigantischen Veränderungen gedanklich nachzuvollziehen. Wie gesagt, schon früher wurde gelegentlich befürchtet, die menschliche Seele könnten den rasenden Neuheiten nicht hinterherkommen.“ Vielleicht ist diese Niederlage in Langsamkeit aber erst jetzt wirklich erlitten. Nichts ist so binär wie die primäre Funktionsweise eines Computers, obwohl ein unversöhnliches Entweder-oder aus den Netzwerken heraus die meisten vielschichtigen Debatten befallen zu haben scheint.
Niemand konnte sich an eine vorhergehende Pandemie erinnern
Am Beginn des Jahres 2020 brach eine Pandemie über die Welt herein, und zum ersten Mal in der Geschichte lebte niemand mehr, der sich an die vorhergehende erinnern konnte. Eva Menasse blickt zurück: „Einige erschrockene Wochen lang waren die Nachrichten fast monothematisch. Das Zusammentreffen von Menschenleere und Massenmedien schuf skurrile Bilder: Vermummte Fernsehteams filmten auf den leergefegten Hauptplätzen der Welt zuerst einander.“
Danach schwenkten sie in Zeitlupe über die Stein- und Stahlwüsten von Petersplatz, Times Square oder Champs-Elysées, sodass man als Zuschauer eine Ahnung von Nahtod-Erlebnissen bekam. Alles Schöne zieht langsam und stumm noch einmal vorbei. Eva Menasse fügt hinzu: „In den Talkshows, die bis dahin den nationalen Stammtisch zumindest hatten vortäuschen sollen, wurde der Abstand der Teilnehmer in ihren Sesseln so vergrößert, dass eine Gesprächssituation kaum noch entstand.“ Quelle: „Alles und nichts sagen“ von Eva Menasse
Von Hans Klumbies