Soziale Kräfte untergraben die sexuelle Emanzipation

In der zeitgenössischen Sexualität kommt nicht etwa eine von der amoralischen Populärkultur freigesetzte rohe heidnische Energie zum Ausdruck. Sondern sie ist vielmehr der Träger einer Reihe von sozialen Kräften, die genau jene Werte untergraben, die den Kampf für die sexuelle Emanzipation einmal beflügelt haben. Eva Illouz erläutert: „Die Sexualität ist zu einem Feld für psychologische Humantechniken, Technologien und den Konsumentenmarkt geworden, die eines gemeinsam haben: Sie organisieren und übersetzen das Begehren und die zwischenmenschlichen Beziehungen in eine schiere Angelegenheit der individuellen Wahl.“ Die – sexuelle, konsumbezogene und emotionale – Wahl ist das Leitmotiv, an dem sich das Selbst und der Wille im liberalen Gemeinweisen orientieren. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

Das moderne Selbst hat die Möglichkeit der Wahl

Ein modernes oder spätmodernes Selbst zu haben heißt, von der Möglichkeit der Wahl Gebrauch zu machen und sich der subjektiven Erfahrung, dass man die Wahl hat, so oft wie möglich zu vergewissern. Die Wahl ist der Topos des Selbst, der die Freiheit mit dem Bereich des Markts und dem der Gefühle verbindet; sie ist der wichtigste Modus von Subjektivität in den Sphären des Konsums und der Sexualität. Die Wahl verbindet zwei unterschiedliche Ideen, von denen sich die eine auf ein gegebenes Angebot, eine Auswahl an Gütern bezieht, während die andere den subjektiven Aspekt meint, dass sich ein Individuum mit einer Reihe von Möglichkeiten konfrontiert sieht, die von ihm eine Entscheidung, eine Auswahl verlangt.

Eva Illouz erklärt: „Die Wahl ist also sowohl Ausdruck einer bestimmten Gliederung der Welt, die sich als eine vorsortierte Mischung von Möglichkeiten darstellt, denen das Subjekt direkt und unvermittelt begegnet, als auch Ausdruck einer Gliederung des Willens in Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche.“ Aus kultursoziologischer Perspektive bietet die Wahl den besten Anknüpfungspunkt, um zu verstehen, wie sich die gewaltige Struktur des Marktes in kognitive und emotionale Eigenschaften des Handelns übersetzt.

Die Partnersuche gleicht dem kapitalistischen Tausch

Unter der Ägide der sexuellen Freiheit haben heterosexuelle Beziehungen die Form eines Marktes angenommen – als unmittelbares Aufeinandertreffen eines emotionalen und sexuellen Angebots mit einer emotionalen und sexuellen Nachfrage. Beides – Angebot und Nachfrage – sind stark durch Objekte und Orte des Konsums sowie durch Technologie vermittelt. Sexuelle Begegnungen, die als Markt organisiert sind, werden gleichermaßen unter dem Vorzeichen der Wahl wie unter dem der Ungewissheit erlebt.

Indem sie die Individuen die Bedingungen ihrer Begegnung selbst aushandeln lässt und sie dabei kaum durch Regeln oder Verbote einschränkt, erzeugt diese Marktform eine weitverbreitete und tiefgreifende emotionale und kognitive Ungewissheit. Wenn Menschen sich in einem offenen Markt begegnen, treffen sie direkt aufeinander. Sie tun dies über Technologien, die auf eine Steigerung der Effizienz bei der Partnersuche zielen. Und sie orientieren sich dabei an vorgefertigten Skripten des Tauschs, der Zeiteffizienz sowie des hedonistischen Kalküls und entwickeln eine vergleichende Geisteshaltung – all dies sind charakteristische Merkmale des fortgeschrittenen kapitalistischen Tauschs. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz

Von Hans Klumbies

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