Sex braucht weder Sünde noch Scham

Nur wenige kulturelle Projekte waren so total wie das der sexuellen Befreiung. Es befreite den Geschlechtsverkehr von Sünde und Scham. Und es verwandelte die Sexualität unter tätiger Mithilfe der Psychologen in ein Synonym für emotionale Gesundheit und Wohlbefinden. Eva Illouz ergänzt: „Zugleich war es ein Projekt, das darauf abzielte, Frauen und Männer, Heterosexuelle und Homosexuelle gleichzustellen. Damit war es auch ein wesentlich politisches Projekt.“ Die sexuelle Befreiung legitimierte darüber hinaus die sexuelle Lust als Selbstzweck. Zugleich nährte sie damit die Vorstellung von hedonistischen Rechten. Dabei handelt es sich um jenes diffuse kulturelle Gefühl, das Individuen einen Anspruch auf sexuelle Lust haben, um ein gutes Leben zu verwirklichen. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

In der Sexualität offenbart sich das wahre Selbst

Zu guter Letzt war die sexuelle Befreiung ein fester Bestandteil der Kultur der Authentizität wie auch eine Praxis zur Authentifizierung des Selbst. In der Sexualität offenbarte und inszenierte sich das wahre Selbst. Was die Sexualität aber zur beherrschenden Struktur gemacht hat, als die sie sich heute darstellt, war der Umstand, dass sie die Wirtschaft erobert und in Szene setzt. Sexualität wird performativ durch die Wirtschaft ausgelebt. Und umgekehrt mündeten ökonomische Praktiken in die Sexualisierung des Selbst und seines Verhaltens.

Der Industriekapitalismus stützte sich auf die Fabrik und die Familie. Sie waren die beiden tragenden Säulen der Organisation der ökonomischen und biologischen Reproduktion. Die Famillie erzog und rüstete das Individuum zu der seelischen Entsagung, Selbstdisziplin und Fähigkeit zur Kooperation. Diese verlangt der kapitalistische Arbeitsplatz. Im Anschluss an die 1960er Jahre veränderte sich ein wichtiger Aspekt der Kultur des Kapitalismus. Mit Gilles Deleuze gesprochen, war der Kapitalismus „nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt“.

Die Sexualität nahm die Gestalt des Konsums an

Daher war das wesentliche Merkmal dieser neuen Form des Kapitalismus die Streuung. Die Familie büßte ihre Rolle als soziale Säule der Wirtschaftsproduktion ein. Diese Form von zerstreuenden Kapitalismus benötigte die traditionellen sozialen Agenturen nicht mehr, welche die sexuellen Begegnungen reguliert und zur Gründung von Familien hingelenkt hatten. Sexualität, das war nun nicht mehr nur das, was man im eigenen Schlafzimmer trieb. Die Sexualität nahm vielmehr die Gestalt einer Unzahl von Praktiken des Konsums an.

Diese richteten den Körper und sein Erscheinungsbild, das Selbstverhältnis, die eigenen Wünsche und Begierden und die sozialen Beziehungen ganz allgemein neu aus. Tatsächlich verwuchs die Sexualität sehr stark mit der Wirtschaft. Zu Recht kann man deshalb von der Entstehung einer neuen Form von Handeln sprechen. Nämlich dem sexuellen Handeln, bei dem man seinen eigenen Körper, seine kulturellen Strategien, seine Werte, Ziele und sein Selbstgefühl aus dem Innersten heraus ordnet. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz

Von Hans Klumbies