Es gibt wohl keinen zweiten Kontinent, der so oft seine Haut gewechselt hat wie Europa und gerade dadurch immer er selbst geblieben ist. Der Blutgeruch der Revolution war noch nicht verflogen, da begann die Blaue Blume der Romantik zu erblühen. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Und während deren Dichter und Künstler schwärmerisch die Mythen aus grauer Vorzeit besangen, hatte – nicht nur in England – bereits das industrielle Zeitalter mit Massenproduktion und der Mechanisierung der Arbeit Einzug gehalten.“ Maschinenparks und Menschenmassen auf der einen, der Traum vom Individuum und seiner Autonomie auf der anderen Seite. Und all dies nahezu simultan und zum Teil ineinander übergehend. Auch wenn man sich daran gewöhnt hat, in mehr oder weniger säuberlich voneinander getrennten Epochen und Perioden zu denken. Die Wirklichkeit sieht wesentlich komplizierter aus. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Konzepte der Nation entstanden in verschiedenen Ländern
Das Europa des 19. Jahrhunderts arbeitete und dachte, reflektierte und produzierte auf unterschiedlichen, zum Teil konträren und gegensätzlichen Ebenen. Tiefe Melancholie, Technologieversessenheit, sentimentale Naturverklärung, rabiate Naturzerstörung, epigonaler Klassizismus und provokante Sturmläufe gegen das „Schöne“ – all dies findet innerhalb weniger Jahrzehnte statt. Jürgen Wertheimer rät: „Und auch wenn die Autoren und Künstler sich bisweilen so stilisierten, als wären sie allein die Neuerer, die alles Überkommen beiseite räumen, ist Vorsicht angebracht.“
Das 19. Jahrhundert war eine Art Magen, gefüllt mit allen Resten und Rudimenten vergangener Jahrhunderte. Vieles hatte sich mittlerweile angesammelt und lag nebeneinander. Halbverdaut. Unverdaut. Die Antike in Gestalt eines etwas sterilen Klassizismus. Erinnerungen an ein heroisches christliches Mittelalter, Renaissancephantasien und Revolutionsreste. Und als letzte Zutat die Idee der „Nation“. Konzepte des Nation Building stülpten sich mit gewaltiger emotionaler und konzeptioneller Wucht über die verschiedenen Länder.
Frankreich versuchte Europa zu erobern
Sie verwandelten die Territorien innerhalb weniger Jahre zu etwas gänzlich Neuem. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Aus Dutzenden deutscher Duodezfürstentümer wird die Idee des Deutschen Reichs. Frankreich wird im Gefolge Napoleons zur dominierenden europäischen Übernation. Gleichzeitig entwickelt sich der Habsburg-Mythos zur Idee fixe, die ein anderes östliches, bis Galizien reichendes Europa zusammenhält.“ Selbst Italien – jahrhundertelang ein zersplittertes Gebilde – verwandelt sich zum zentralistischen Zentralstaat.
Ebenso wie Russland, dessen Selbstbewusstsein durch den Sieg über Napoleons Armee gewachsen war, seine Rolle als vereinigte Ordnungsmacht neu zu definieren begann. Die Initialzündung war vom revolutionär-republikanischen Frankreich ausgegangen. Die Dynamik der revolutionären Bewegung brachte jedoch keine weiteren Republiken hervor. Vielmehr versuchte Frankreich, besonders unter Napoleon, Europa zu erobern und nach seinem Maßstab zu verändern. Die Wucht dieses Ansturms aus dem Westen war derart vehement, dass er schier unaufhaltsam schien. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies