Es gibt keinen Weg zurück in eine homogene Gesellschaft

Die Vorstellung von Pluralisierung beruht auf dem grundlegenden Missverständnis, dass die Vielfalt, dass die Pluralisierung eine Gesellschaft unverändert ließe. Woher rührt diese falsche Vorstellung. Isolde Charim erläutert: „Sie rührt daher, dass man glaubt, gesellschaftliche Vielfalt sei eine Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Gesellschaftliche Vielfalt sei einfach eine Addition.“ Da gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: beispielsweise die Türken oder die Jugoslawen. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es ist für Isolde Charim das Gebot der Stunde zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten: Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg zurück in einen nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Die Pluralisierung verändert alle Individuen einer Gesellschaft

Und zweitens: Pluralisierung ist kein äußerlicher Vorgang. Die Vorstellung einer Addition ist trügerisch. Sie suggeriert nämlich, die einzelnen Posten der Addition blieben unverändert. Als ließe die Addition die Menschen, die sie verbindet, unverändert. Denn für Isolde Charim steht fest: „Die Pluralisierung verändert uns alle.“ Die Veränderung ist dabei eine doppelte. Sie findet auf zwei Ebenen statt. Es ist eine Veränderung der Zugehörigkeit, also eine Veränderung, wie Individuen der Gesellschaft angehören.

Und es ist eine Veränderung der eigenen Identität. Die Pluralisierung verändert den persönlichen Bezug zu anderen, und sie verändert den Bezug zu sich selbst, die Art, wie man sich auf sich selbst bezieht. Was die Zugehörigkeit anbelangt, so muss man sagen: Man kann heute nicht mehr auf dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie früher. Wobei dieses ungetrübte „Früher“ natürlich auch eine Verklärung ist. Nicht weil die Berge weniger hoch, die Wälder weniger grün und das Jodeln weniger krächzend wäre.

Es gibt keine selbstverständliche Kultur mehr

Sondern einfach, weil diese Form des Deutsch- oder des Österreichisch-Seins nicht mehr die einzige Form ist. Weil dieses Milieu nicht mehr das einzige Milieu ist, weil diese Kultur nicht mehr das einzige kulturelle Koordinatensystem in diesen Ländern ist. Keiner kann heute seine Kultur noch so leben, als ob es keine andere Kultur daneben gäbe. In gemischten Gesellschaften steht jede Kultur neben anderen Kulturen. Das aber heißt: Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr.

Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung. Denn eine wesentliche Funktion von Kultur ist es, Evidenz zu erzeugen – also einen unmittelbar einleuchtenden Zugang zur Welt. Einen unhinterfragten, eben einen selbstverständlichen Zugang. Heute aber gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss. Eine Selbstverständlichkeit aber, die in Frage gestellt wird, ist gerade das nicht mehr – eine Selbstverständlichkeit. Damit wird die Außenperspektive auf jede Kultur Teil ihrer Innenperspektive. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies