Ein Künstler darf keinem Ideal hinterherhecheln

In der Kunst muss es für den österreichischen Künstler Erwin Wurm den Punkt geben, an dem man sagt: Es reicht, jetzt ist es gut: „Es gibt immer zwei Kunstwerke: Das eine ist in meinem Kopf, das andere steht vor mir. Wenn beide kongruent sind, ist es optimal. Das ist aber nie der Fall.“ Trotzdem darf ein Künstler dem Ideal nicht hinterherhecheln. Das wäre der schlimmste Fehler überhaupt, weil man dann verbissen wird, die Intuition einbüßt und die Alternativen aus dem Blick verliert. Ein Zufall kann schöner und schlüssiger sein als ein Plan. Der deutsche Maler Gerhard Richter hat einmal gesagt, seine Bilder seien schlauer als er. Auch Erwin Wurm lässt sich von seinen Skulpturen führen und kontrollieren. Nur so können sie seiner Meinung nach gut werden.

Kunst sollte keine Reaktion ansteuern

Etwas ist für Erwin Wurm nur dann Kunst, wenn ein Künstler behauptet, dass es Kunst ist, und zwar in einem bestimmten Zusammenhang. Einer der Größten überhaupt, Marcel Duchamp, hat vor 100 Jahren gesagt: „Ich erkläre dieses Urinal zu einem Kunstwerk, also ist es ein Kunstwerk.“ Auf die Frage, welche Reaktionen er auf seine Arbeiten unangemessen findet, antwortet Erwin Wurm: „Wenn man in Ehrfurcht verfällt oder sie als Lachnummer abtut. Dazwischen bin ich mit allem einverstanden. Kunst sollte keine Reaktion ansteuern, weil man dabei nur verlieren kann.“

Erwin Wurm hat lebendige Skulpturen aus Museumsbesuchern gemacht, Skulpturen aus Essiggurken, Ja sogar aus Staub. Auf die Frage nach den Grenzen einer Skulptur, antwortet der Künstler: „Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage.“ Erwin Wurm hat nicht zufällig einmal Kunstgeschichte studiert. Er mag alte Kunst und findet, dass Arbeiten aus allen möglichen Epochen wunderbar miteinander auskommen können – vorausgesetzt, sie sind gut. Qualität ist die einzige Instanz, die Erwin Wurm akzeptiert.

Seine „One Minute Sculptures“ machten Erwin Wurm international bekannt

Erwin Wurm erklärt: „Kunst ist gelungen, wenn man das Gefühl hat, dass sie gelungen ist. Das Problem ist, dass es drei Wochen später schon wieder ganz anders sein kann. Bei mir im Esszimmer hängen ein Dürer und ein Beuys nebeneinander. Das eine Bild ist 500, das andere 50 Jahre alt. Ich könnte nicht sagen, welches mir lieber ist.“ Erwin Wurm hat 1997 mit seinen „One Minute Sculptures“ seinen internationalen Durchbruch geschafft. Dabei nahmen Museumsbesucher für je eine Minute eine von ihm vorgegebene Pose ein und wurden so selbst zur Skulptur.

Erwin Wurm erzählt: „Ich habe die Besucher aufgefordert, auf ein Podest zu steigen und absurden Handlungsanweisungen zu folgen, zum Beispiel sich Bürogegenstände in Mund, Nase und Ohren zu stecken oder sich einen Kleiderbügel samt Kleidung an die Unterlippe zu hängen. Die Besucher werden selbst zu Performern, zu Objekten ästhetischer Erfahrung. Man konnte sich von den Museumsaufpassern fotografieren lassen, das Polaroid mitnehmen und mir zum Signieren schicken. Leider sind früher oder später alle bei Ebay gelandet.“

Kurzbiographie: Erwin Wurm

Erwin Wurm zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Er wurde 1954 in Bruck an der Mur (Steiermark) geboren, studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Graz und – nachdem ihm der Zugang zur Malereiklasse verwehrt geblieben war – Bildhauerei in Wien. Sein Werk umfasst nahezu sämtliche Gattungen, umkreist aber vor allem die Frage: Was ist eine Skulptur? Erwin Wurms Arbeiten werden in den renommiertesten Museen und Galerien weltweit gezeigt, zum Beispiel im Centre Pompidou in Paris, im Kunsthaus Zürich, im Guggenheim Museum in New York oder im Museum Ludwig in Köln. Quelle: Süddeutsche Zeitung Magazin
Quelle: Süddeutsche Zeitung Magazin