Ernst Fraenkel seziert die Rolle des deutschen Parlaments

Im Gegensatz zum englischen beruht das kontinentaleuropäische parlamentarische Denken laut Ernst Fraenkel auf dem Gedanken der Delegation. Er zitiert L.S. Amery, der in seinem Buch „Thoughts on the Constitution“ diesen Gegensatz mit provozierender Schärfe herausgearbeitet hat. Dieser hat zwar das britische Regierungssystem ausdrücklich als Demokratie bezeichnet, aber auch gesagt: „Es ist eine Demokratie, die nicht auf Delegation, sondern auf Zustimmung beruht.“ Nach den dem kontinentaleuropäischen parlamentarischen Regierungssystem zugrunde liegenden Vorstellungen delegiert das Volk seine Machtbefugnisse seinen gewählten Repräsentanten, dem Parlament, und das Parlament delegiert sie der Regierung mit der Wirkung, dass das Volk sich durch Vermittlung seines Parlaments selbst regiert. Das Parlament präsentiert also einen vorgegebenen Allgemeinwillen des Volkes. Es ist nur dazu berufen, diesen zu finden, aber nicht zu formen.

Die Parlamentarier sollen sich als Repräsentanten des Gemeinwohls verstehen

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sich laut Ernst Fraenkel die deutschen Parlamente nicht organisch aus den Ständen entwickelt, sondern sind im begrifflichen Gegensatz zu dem Ständewesen konzipiert und errichtet worden. Ernst Fraenkel fügt hinzu: „An die Mitglieder des Parlaments wurde die Forderung gestellt, den Gedanken aufzugeben, dass sie Vertreter von Partikularinteressen seien; vielmehr sollten sie sich verhalten, als ob sie ausschließlich Repräsentanten des Gemeinwohls seien.“

Losgelöst von einer gesellschaftlichen Grundlage, die notwendigerweise eine pluralistische sein muss, sieht sich das Parlament in eine Geisterwelt hineinversetzt. Hier ist es entweder zur Unfruchtbarkeit verurteilt oder zum Ausbruch in die gesellschaftliche Realität gezwungen. Erich Fraenkel erklärt: „Unter der Zwangsneurose leidend, ausschließlich Exponent eines nur allzu häufig fiktiven Allgemeinwillens zu sein, handelt der einzelne Parlamentarier bei Wahrnehmung der Interessen seiner Wählerschaft mit schlechtem Gewissen und mit falschem Bewusstsein.“

Die Repräsentanten der Nation müssen die Wahrnehmung von Sonderinteressen verschleiern

Solange es dem Parlamentarier verwehrt ist, sich offen zu der Doppelrolle eines Repräsentanten der Nation und eines Vertreters von Partikularinteressen zu bekennen, muss er laut Ernst Fraenkel die Wahrnehmung eines jeden Sonderinteresses mit der Gloriole des Schutzes von Gemeinschaftswerten umkleiden. Damit wird aber die freimütige Austragung, der in jeder pluralistischen Gesellschaft notwendigerweise entstehenden kollektiven Interessengegensätze, mit dem unechten Pathos grundsätzlicher Erörterungen über allgemeingültige Prinzipien vorgenommen.

Dadurch wird die Atmosphäre im Parlament vergiftet und die Glaubwürdigkeit seiner Diskussionen beeinträchtigt. Ernst Fraenkel erläutert: „In der ambivalenten Haltung der deutschen Parlamente gegenüber der sozialen Basis ihrer eigenen Existenz wittert der Volksinstinkt einen Mangel an Aufrichtigkeit und ist dazu geneigt, dem Parlament und dessen Mitgliedern den Prozess wegen ideologischer Selbsttäuschung, wenn nicht gar wegen bewussten Volksbetrugs zu machen.“ Dies erklärt das Bestreben, eine saubere Trennung zwischen der Repräsentation des Gemeinwohls und der Vertretung von Partikularinteressen vorzunehmen.

Kurzbiographie: Ernst Fraenkel

Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.

Von Hans Klumbies