Ernst Fraenkel prüft das Verhältnis von Parlament und Bürokratie

Ernst Fraenkel kritisiert, dass in Deutschland die Tradition der großartigen Parlamentsdebatten fehlt, in denen in offener Feldschlacht um Sieg oder Niederlage einer Regierung gefochten wurde. Ebenso wenig gibt es seiner Meinung nach hierzulande die Flexibilität der parlamentarischen Taktik auf sich selbst gestellter Abgeordneter. Auch nicht vorhanden ist ein parlamentarischer Stil, der aus dem esprit de corp von Angehörigen der verschiedenen Parlamentsgruppierungen erwächst, die sich mit Augenzwinkern und Augurenlächeln zusichern, dass sie Bescheid wissen und den Comment parlamentarischer Solidarität nicht verletzen werden. Ernst Fraenkel schreibt: „Der deutsche Parlamentsstil ist von Ehrenmännern entwickelt worden, deren auf Prinzipientreue basierendem Ernst der Gedanke eines politisches Spiels als frivol erschienen wäre.“ Dazu kommt, dass seit den Tagen des Frühparlamentarismus in Deutschland, eine beispiellos hoch entwickelte Bürokratie dem Parlament, seinen Mitgliedern und Parteien, den Weg zur Exekutive versperrt hatte.

Die Bürokratie beschränkte das Parlament ausschließlich auf das Gebiet der Gesetzgebung

Die Bürokratie in Deutschland verstand es damals unter Berufung auf das Montesquieusche Gewaltenteilungsprinzip das Parlament fast ausschließlich auf das Gebiet der Gesetzgebung zu beschränken. Ernst Fraenkel erklärt: „Unter Gesetzgebung wurde aber per definitionem die Setzung allgemein gültiger Normen  verstanden.“ Es wurde eine dogmatisch scharfe Unterscheidung zwischen Normensetzung und Normenvollzug gemacht und jegliches Mitwirkungsrecht und Kontrollbefugnis des Parlaments an der Ausübung der Exekutivgewalt mit Abscheu zurückgewiesen.

Für Ernst Fraenkel ist es deswegen auch kein Wunder, dass es in einem Parlament, das sich vom Haushaltsgesetz abgesehen, im wesentlichen auf den Bereich der abstrakten Normensetzung beschränkt sah, zur Bildung von Parteien kam, die an Prinzipien ausgerichtet waren und die höchste Erfüllung der ihnen gesetzten Aufgaben in der Entwicklung in sich konsequenter Gesetzgebungsprogramme erblickten. Ernst Fraenkel fügt hinzu: „Von der These eines vorgegebenen Gemeinwillens ausgehend und der Möglichkeit beraubt, die abstrakt formulierten Prinzipien ihrer Gesetzgebungsprogramme auf ihre Durchführbarkeit hin zu untersuchen, mussten sich die deutschen Parteien in einen Doktrinarismus verrennen.“

Die Beamtenschaft entzieht ihre Amstführung der Kontrolle des Parlaments

Personalpolitische Fragen üben laut Ernst Fraenkel zentripetale, prinzipienpolitische Fragen eine zentrifugale Wirkung auf das Parteiwesen aus. Indem die deutsche Bürokratie darauf bestand, dass personalpolitische Entscheidungen dem Aufgabenkreis des Parlaments entzogen wurden, trug sie dazu bei, dass sich die Parteien und Aspekten konstituierten, die den Abschluss von Kompromissen schwierig und die Bildung von kompakten Mehrheiten im Parlament unmöglich machten.

Ernst Fraenkel vertritt die These, dass das deutsche Vielparteiensystem und die überragende Rolle der Bürokratie Komplementärerscheinungen in der Geschichte des Kaiserreichs sind. Das Bemühen des Beamtenstaats, das Parlament in die Sphäre der abstrakten Normensetzung zu verbannen, ist seiner Meinung nach aber nicht nur mit dem verständlichen Wunsch der Bürokratie zu begreifen, nicht zum Spielball parlamentarischer Cliquen zu werden. Sie beruht auch auf dem Bestreben der Beamtenschaft, ihre Amtsführung der Kontrolle des Parlaments zu entziehen.

Kurzbiographie: Ernst Fraenkel

Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.

Von Hans Klumbies