Der anspruchsvolle Vermesser des eigenen Selbst wird in aller Regel von seinem hohen Kontrollbedürfnis angetrieben. Den allgegenwärtigen Ungewissheiten setzt der Selbstvermesser sein Verlangen nach Körperkontrolle entgegen. Ernst-Dieter Lantermann fügt hinzu: „Was er kontrollieren kann, wird für ihn zu einem Ort verlässlicher Gewissheit, was sich seiner Kontrolle entzieht, zu einem Ort gefährlicher Ungewissheiten.“ Der Selbstvermesser schwört auf eine Strategie der Reduktion seiner Unsicherheit, die in der Forschung als „Kontrollmaximierung“ bekannt ist. Hintergrund dieser Strategie ist die Überzeugung, dass die irritierenden Unsicherheiten, die ein Leben in diesen Zeiten prägen, nur durch eine maximale Kontrolle ihrer Ursachen, Verläufe und Konsequenzen beherrscht und schließlich in Orte neuer Gewissheiten verwandelt werden können. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.
Der Einzelne will sich als autonomes Subjekt behaupten
Durch solche Orte weiß der Einzelne wieder, was er unternehmen kann, um sich als autonomes Subjekt zu behaupten. Da der Selbstvermesser erleben muss, dass die Welt um ihn herum sich seinem ausgeprägten Bedürfnis nach Kontrolle widersetzt, findet er zuletzt in seinem Körper diejenige Instanz, über die er, wie er glaubt, souverän verfügen und die er mit Willen, Ausdauer und Geschick in seinem Sinne gestalten, modellieren und kontrollieren kann. Selbstvermesser möchten ihren Körper nicht nur physisch, sondern auch kognitiv kontrollieren.
Dazu erfassen sie alles und berechnen voraus, was in und mit ihrem Körper geschieht, weil sie die Ursachen ihrer körperlichen Veränderungen exakt bestimmen wollen. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Sie sind überzeugt, dass in der Quantifizierung ihrer Körperdaten der Schlüssel für ein gegen alle Überraschungen, Gefahren und Unwägbarkeiten gefeites Leben liegt.“ Radikale Selbstvermesser sehen in einer maximalen Selbstüberwachung und Kontrolle ihres Körpers die beste und einzig mögliche Strategie zur Reduktion ihrer Unsicherheiten gegenüber ihrem Selbst und der Welt.
Es gibt primäre und sekundäre Kontrollstrategien
Ein zweiter, gangbarer Weg zur Bewältigung von Unsicherheit bleibt ihnen damit allerdings verschlossen. Psychologische Kontrolltheorien unterscheiden zwischen primären und sekundären Kontrollstrategien. Als primäre Kontrolle werden Aktivitäten bezeichnet, die darauf abzielen, die äußere Situation im Sinne einer tatsächlichen Annäherung an die persönlichen Ziele zu verändern, als sekundäre Kontrolle dagegen eine Veränderung der inneren Situation, durch die Bereitschaft, die eigenen Ziele in Abhängigkeit von den Optionen der jeweiligen Situation zu revidieren.
Beide Varianten der Kontrolle ermöglichen, wenn auch auf sehr unterschiedlichen Wegen, eine Reduktion subjektiver Unsicherheit, indem sie die Diskrepanz zwischen Situation und Ziel vermindern und damit dem Handelnden seine Handlungsmächtigkeit beweisen. Manche Selbstvermesser bestehen jedoch auf einer Strategie der primären Kontrolle. Schon die Vorstellung, ihren hohen Anspruch an Kontrolle senken zu müssen, löst bei ihnen Angst und Selbstzweifel aus. Quelle: „Die radikalisierte Gesellschaft“ von Ernst-Dieter Lantermann
Von Hans Klumbies