Über 30 Prozent der 15- bis 25- Jährigen lassen sich heutzutage tätowieren und piercen. Die Zahl der Menschen, die ihren Körper mit Schmucknarben oder Brandings „verschönern“, wächst ständig. Eingriffe von Schönheitschirurgen nehmen seit Jahren zu. Ernst-Dieter Lantermann nennt Zahlen: „Im Jahr 2013 wurden von der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgie 138.000 ästhetische Operationen und fast gleich viele Unterspritzungen zur Straffung der Haut gezählt.“ Body- und Facelifting, Kinn-, Ohr- und Nasenkorrekturen, Augenlidstrafung und Fettabsaugung werden zunehmend auch von Männern nachgefragt. Immer mehr Frauen lassen sich ihre Schamlippen in eine schönere Form bringen und folgen damit dem Trend zur Designer-Vagina; waren es 2010 in Deutschland noch 1.700 Operationen, sind es im Jahr 2015 bereits 9.000. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.
Etwa zwei Millionen Deutsche nutzen regelmäßig Dopingpräparate
Ende 2015 waren in Deutschland knapp zehn Millionen Menschen Mitglieder eines Fitness-Studios, etwa 20 Prozent von ihnen nutzen regelmäßig Dopingpräparate. Ernst-Dieter Lantermann erläutert: „Neben dem Wunsch nach körperlicher Gesundheit und Fitness steht bei Fitnessliebhabern der Wunsch nach einem perfekt gestylten Körper im Vordergrund.“ Der Umsatz der deutschen Fitnessindustrie wird für das Jahr 2017 auf knapp fünf Milliarden Euro geschätzt. Zur Perfektionierung der einen Schönheit kann man sogar Botox-Parties besuchen.
Nun stellt das Verlangen nach einem optimierten Körper keineswegs eine Erfindung unserer Zeit dar. Haber der Körper in den traditionellen Gesellschaften Europas noch als Sitz der natürlichen Eigenschaften einer Person gegolten, so sei er mit dem Übergang zu den modernen Demokratien zum einem Medium symbolischen Ausdrucks geworden, konstatiert der Sportsoziologe Thomas Alkemeyer. Der Körper avancierte zu einem Schauplatz der Einübung und Demonstration bürgerlichen Selbstverständnisses, er gehörte gepflegt, modelliert und als symbolischer Beweis gesellschaftlicher Leistung, Zugehörigkeit und Abgrenzung optimiert.
Die Modellierung des eigenen Körpers mutiert zum Dauerprojekt
Ernst-Dieter Lantermann blickt zurück: „Die überfeinerten Körper der Adligen galten dem aufstrebenden Bürgertum als Beweis, dass sich dieser gesellschaftliche Stand überlebt hatte. Hingegen wurde der kraftvoll gestraffte, gesunde Körper des Bürgers zum Sinnbild von Tüchtigkeit und moralischer Überlegenheit.“ Im heutigen Zeitalter sozialer Unverbindlichkeiten und extremer Multioptionalität wandelt sich jedoch die Modellierung des eigenen Körpers von einem gesellschaftlichen zu einem privaten, individuellen Dauerprojekt.
Wenn es keine selbstverständlichen Normen und Regeln für eine richtige Lebensführung gibt, suchen Menschen nach Gelegenheiten und Orten, an denen sie sich trotz aller Unsicherheiten und Gefährdungen als selbstbestimmende und selbstbewusste Individuen erfahren können. Der Körper ist für viele Menschen zu einem solchen, vielleicht letzten Ort geworden, an dem sie ihre Bedürfnisse nach Kontrolle, nach Gestaltung und Optimierung noch mit einiger Aussicht auf Erfolg ausleben können. Quelle: „Die radikalisierte Gesellschaft“ von Ernst-Dieter Lantermann
Von Hans Klumbies