Immer mehr Bürger radikalisieren sich in ihrer Lebensführung

Der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann benennt in seinem neuen Buch „Die radikalisierte Gesellschaft“ Ursachen und Handlungsmotive der Selbstverschließung vieler Menschen gegenüber allem Neuen und weist auf jene inneren Ressourcen hin, die einem Menschen hilft, nicht den Versuchungen radikaler und fanatischer Haltungen zu erliegen. Das Verschwinden von Gewissheiten ist ein Kennzeichen der Gegenwart. Viele Menschen fühlen sich von dem rasanten Tempo der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen überfordert. Ihr Selbstwertgefühl leidet unter der Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse, für die sie ja selbst, so suggeriert der Zeitgeist, verantwortlich sind. Die Antwort vieler Bürger auf die wachsende Unsicherheit ist eine Radikalisierung ihrer Lebensführung. Ernst-Dieter Lantermann nennt Beispiele: Den Fremdenfeind, der alle Probleme dieser Welt aus der massenhaften Ankunft von Flüchtlingen herleitet. Den Fitnesstreibenden, der sich distanzlos allen digitalen Neuerungen der Selbstkontrolle unterwirft. Den Sicherheitsfanatiker oder den fanatischen Nostalgiker. Sie eint aus psychologischer Sicht mehr, als ihnen bewusst ist.

Die meisten Menschen suchen nach Gewissheit und Sicherheit

Viele Menschen werden immer radikaler. Nicht nur in ihren oft verhängnisvollen Reaktionen auf politische Herausforderungen, sondern auch im Alltag: Sie lassen beispielsweise ihre ganze Energie in die Selbstoptimierung und die optimale Gestaltung ihres Körpers fließen. Andere wieder meinen, als Veganer die Welt zu retten oder schließen sich als Reiche in Gated Communities von der Gesellschaft ab. Der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann erforscht seit Jahrzehnten, wie sich Menschen in unsicheren Situationen verhalten. Er fragt nach den Wurzeln des allgegenwärtigen Fanatismus – und nach Möglichkeiten, das vielfach bedrohte Selbstwertgefühl zu stärken.

Der ungestüme, blanke Hass auf Asylsuchende, Fremde und Flüchtlinge ist nur ein, wenn auch besonders erschreckendes Beispiel einer wachsende Radikalität in der Gesellschaft. Eine Quintessenz aus den einschlägigen Befunden sozialwissenschaftlicher und psychologischer Forschungen über den Umgang mit Unsicherheit formuliert Ernst-Dieter Lantermann wie folgt: „Wer die um sich greifende Radikalisierung von Menschen verstehen möchte, die den rasanten gesellschaftlichen Veränderungsschüben und den damit verbundenen Unsicherheiten und Verstörungen ausgesetzt sind, muss an einer entscheidenden Stelle des Seelischen ansetzen: an dem grundlegenden Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Gewissheit, Kontrollierbarkeit und Sicherheit.“

Die soziale Ausgrenzung von Menschen muss unbedingt verhindert werden

Werden diese Bedürfnisse auf Dauer nicht erfüllt, erleben viele Menschen die Unsicherheiten ihrer Lebenssituation als gravierende Bedrohung ihrer Selbstachtung und ihres Selbstwertgefühls. Um dieser schmerzlichen Erfahrung nicht länger ausgesetzt zu sein, schaffen sie sich dann ihre eigenen Gewiss- und Sicherheiten. Radikalisierte und Fanatiker können gerade durch ihre zugespitzten Haltungen und Handlungen die notwendigen Gewissheiten zurückgewinnen, die es ihnen ermöglichen, sich auch in einer Welt voller Ungewissheiten als souveräne, mit sich selbst einverstandene Gestalter ihrer Lebensführung zu behaupten.

Ernst-Dieter Lantermann möchte mit seinem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft“ die Leser dazu anregen, hinter den unterschiedlichen Phänomenen der Radikalisierung das Gemeinsame und zugleich Trennende aufzuspüren sowie über persönliche, soziale und gesellschaftliche Hintergründe und mögliche Konsequenzen dieser Radikalisierung nachzudenken. Für Ernst-Dieter Lantermann ist jede Maßnahme, die ein Abrutschen von Menschen in einen Zustand gesellschaftlicher und sozialer Ausgrenzung verhindern könnte, zugleich ein wichtiger Schritt zur Eindämmung von Radikalisierung und Fanatismus in einer Gesellschaft.

Die radikalisierte Gesellschaft
Von der Logik des Fanatismus
Ernst-Dieter Lantermann
Verlag: Blessing
Gebundene Ausgabe: 221 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-89667-577-4, 19,99 Euro

Von Hans Klumbies