In seinem Buch „Mit der Vergangenheit leben“ stellt Charles Pépin die These auf, dass Erinnerungen zentral für ein gutes Leben sind: „In den Werten, an die wir glauben, und in den Dingen, und wichtiger sind als alles andere, überdauern die Spuren unseres Herkunftsmilieus, unserer Erziehung und unseres einschneidenden Begegnungen.“ All dies entspringt der Vergangenheit. Und in allem ist die Vergangenheit gegenwärtig. Sie liegt nicht hinter einem Menschen, sondern macht sich kontinuierlich bemerkbar. Egal, ob Menschen glücklich oder unglücklich sind, ihre Vergangenheit kehrt unentwegt zurück. Ein seltsames Ding die Vergangenheit: Sie lässt sich nicht rückgängig machen und sucht doch fortwährend die Gegenwart heim. Menschen bestehen zu weitaus größeren Teilen aus Vergangenheit als aus Gegenwart. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Vergangenheit lässt sich nicht ignorieren
Charles Pépin schreibt: „Unser Erbe lebt durch uns fort, egal ob wir damit konform gehen oder nicht. Es kann lange dauern, bis wir begreifen – und manchmal gelingt es nie –, dass wir zusätzlich zu unserer eigenen Vergangenheit auch die Vergangenheit unserer Ahnen und unserer sozialen Klasse in und tragen.“ Jeder Mensch lebt in einer Gegenwart, die aus verschiedenen Schichten von Vergangenem besteht – Fäden gleich, die das Gewerbe der Gegenwart ausmachen.
Es ist nicht einfach, die Vergangenheit zu ignorieren. Sie bäumt sich, insistiert, schlägt zurück. Sie fernzuhalten erfordert einen ständigen Kampf, der auch unbewusst und automatisch ablaufen kann, aber mit Sicherheit seinen Preis verlangt: Früher oder später hat die Psyche dafür zu zahlen. Charles Pépin weiß: „Wer in die Zukunft prescht, ohne sich umzudrehen, setzt der Gefahr einer Wiederkehr der Vergangenheit aus, die umso brutaler sein wird, als sie negiert wurde.“
Die Zukunft und die Welt sind ebenso wichtig wie die Vergangenheit
Die Vergangenheit ist da, doch sie sollte nicht den ganzen Raum einnehmen. Dafür sollte man sich ihr zuwenden und gleichzeitig der Zukunft, den anderen, der Welt. Um gut mit der Vergangenheit zu leben, über alle Phasen des Lebens hinweg, sollte man lernen, drei Bewegungen gleichzeitig zu vollführen. Eine erste Bewegung hin zur Vergangenheit: die Bewegung des Annehmens und Umschreibens in einem. Die zweite Bewegung hin zur Zukunft: die Bewegung des Handelns.
Und eine dritte Bewegung hin zu den anderen und zur Welt: die Bewegung des Sich-Öffnens, die den Übergang von der ersten zur zweiten Bewegung begünstigt. Charles Pépin zieht folgendes Fazit: „Es gibt in der Tat nichts Besseres, um der Vergangenheit wieder der richtigen Patz zuzuweisen und der Versuchung des Wiederkäuens zu widerstehen, um die Akzeptanz in Handeln umzuwandeln, als sich aus Sorge um die anderen und die Welt zu dezentrierten.“
Mit der Vergangenheit leben
Eine Philosophie für den Aufbruch
Charles Pépin
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 255 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-446-28011-3, 24,00 Euro
Von Hans Klumbies