Der Mensch hat ein existenzielles Bedürfnis nach Werten

Der Mensch sehnt sich nach Werten, nach denen er sein Handeln und Fühlen ausrichten kann. Für Erich Fromm besteht eine natürliche Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen für ihre Werte halten, und den tatsächlichen Werten, von denen sie sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, leiten lassen. In den modernen Gesellschaften sind die offiziellen bewussten Werte, die der religiösen und humanistischen Tradition. Dazu zählt Erich Fromm unter anderem die Individualität, die Liebe, das Mitgefühl und die Hoffnung. Aber für die meisten Menschen sind diese Werte zu Ideologien verkommen und haben ihre Wirkung als Motivationen menschlichen Verhaltens eingebüßt. Die unbewussten Werte, die das menschlichen Handeln unmittelbar motivieren, sind solche, die im Sozialsystem einer bürokratischen Gesellschaft entstehen, nämlich zum Beispiel Besitz, Konsum, soziale Stellung, Vergnügen und Nervenkitzel.

Viele Menschen gründen ihre Werte nicht auf eine göttliche Autorität

Dieser Widerspruch zwischen bewussten und unwirksamen Werten einerseits und unbewussten und wirksamen Werten andererseits wirkt sich zerstörend auf die Persönlichkeit aus. Erich Fromm schreibt: „Dadurch, dass der Mensch anders handeln muss, als man ihn gelehrt hat, und behauptet, sich auch weiterhin daran zu halten, bekommt er ein schlechtes Gewissen und verliert das Vertrauen zu sich und anderen.“ Junge Menschen haben diese Diskrepanz erkannt und ihre kompromisslosen Protest dagegen angemeldet.

Die offiziellen wie auch die tatsächlichen Werte sind keine unstrukturierten Einzelposten, sondern bilden eine Hierarchie, in der bestimmte höchste Werte die anderen als notwendige Ergänzungen zu ihrer Realisierung determinieren. Menschen, die ihre Werte nicht auf eine göttliche Autorität gründen, entwickeln eigene Denkmodelle. Manche von ihnen landen bei einem vollkommenen Relativismus, für den sämtliche Werte nur eine Frage des persönlichen Geschmacks sind und keine andere Grundlage haben.

Erich Fromm orientiert sich an Albert Schweitzers Wertsystem: „Ehrfurcht vor dem Leben“

Ein anderer Wertbegriff bezieht sich auf die in der Gesellschaft immanenten Werte. Nach dieser Auffassung sind die ethischen Normen mit den gesellschaftlichen Normen identisch, und die gesellschaftlichen Normen dienen dem Fortbestand der betreffenden Gesellschaft. Eine dritte Wertvorstellung betrachtet die Werte als biologisch immanent. So sieht beispielsweise der Sozialdarwinismus im Egoismus, im Konkurrenzkampf und in der Aggressivität die höchsten Werte, weil sie angeblich vor allen anderen dem Überleben und der Weiterentwicklung der menschlichen Spezies dienen.

Erich Fromm dagegen vertritt ein Wertsystem, das sich auf Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ gründet. Wertvoll oder gut ist danach alles, was zu einer besseren Entfaltung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten beiträgt und was das Leben fördert. Negativ oder schlecht ist alles, was das Leben erstickt und das Tätigsein des Menschen lähmt. Erich Fromm fügt hinzu: „Die Überwindung der Gier, die Liebe zum Nächsten, die Erkenntnis der Wahrheit sind die allen humanistischen philosophischen und religiösen Systemen des Westens und Ostens gemeinsamen Ziele.“

Kurzbiographie: Erich Fromm

Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Vor seinem Jurastudium an der Frankfurter Universität beschäftigte er sich stark mit dem Talmud. Da er sich mit dem Studium der Rechte nicht sehr anfreunden konnte, ging er nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. 1922 promovierte er mit einer Dissertation über „Das jüdische Gesetz“. 1926 heiratet er die Psychiaterin Frieda Reichmann und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. 1929 wurde Erich Fromm zum Mitbegründer des Süddeutschen Instituts für Psychoanalyse in Frankfurt.

Im Jahr 1933 hielt Erich Fromm Gastvorlesungen an der Universität von Chicago und ließ sich ein Jahr später in New York nieder. 1941 erschien sein Buch „Die Furcht vor der Freiheit“, durch das er berühmt wurde. 1947 publizierte er sein bedeutendes Werk „Psychoanalyse und Ethik“. 1951 wurde Erich Fromm Professor für Psychoanalyse an der Autonomen Universität von Mexiko. 1955 erschien sein drittes Hauptwerk „Der moderne Mensch und seine Zukunft“. Seinen größten publizistischen Erfolg erzielt Fromm allerdings mit seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ (1956). Sehr bekannt geworden ist auch sein Spätwerk „Haben oder sein“ von 1976. Erich Fromm der seit 1974 in Locarno, in der Schweiz, lebte, starb am 18. März 1980.

Von Hans Klumbies