Ein einfaches Modell ermöglicht eine geschichtliche Darstellung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Veränderungen. Emmanuel Todd erläutert: „An der Oberfläche der Geschichte entdecken wir das Bewusste, die Wirtschaft der Ökonomen, die täglich in den Medien präsent ist und deren neoliberale Ideologie in einer merkwürdigen Rückbesinnung auf den Marxismus verkündet, dass sie das Ausschlaggebende sei. Zu diesem Bewussten, dem Schrillen, wie man sagen könnte, gehört natürlich auch die Politik.“ Etwas tiefer stößt man auf ein Unterbewusstes der Gesellschaft, auf die Bildung, eine Schicht, deren Bedeutung die Bürger und Kommentatoren erkennen, wenn sie an ihr reales Leben denken, während sich die orthodoxe Sicht weigert, vollauf anzuerkennen, wie entscheidend sie ist und wie stark sie auf die darüberliegende bewusste Schicht einwirkt. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.
Leistungsfähige Bildung sorgt für wirtschaftlichen Erfolg
Eltern wissen sehr wohl, dass das Schicksal ihrer Kinder – Erfolg, Überleben oder wirtschaftlicher Schiffbruch – von deren schulischen Leistungen abhängt. Unmittelbar leuchtet jedermann ein, dass eine Gesellschaft, die in Sachen Bildung leistungsfähig ist, wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Die bildungspolitischen Erfolge Finnlands und Koreas erklären deren außergewöhnliche Wirtschaftskraft. In einer noch tieferen Schicht liegt das wahrhaft unbewusste der Gesellschaften: Familie und Religion, die sich auf komplexe Weise wechselseitig beeinflussen.
Emmanuel Todd stellt fest: „Ohne dass sich die jeweiligen Akteure dessen bewusst wären, bedingen die – je nach Land autoritären oder liberalen, egalitären oder inegalitären, exogamen oder endogamen – Familienstrukturen politische Werte und Bildungserfolge.“ In einer autoritären und inegalitären Familienstruktur ist der damit einhergehende kollektive Zwang eine Selbstverständlichkeit, die nicht erst geoffenbart werden muss. Dagegen widerspricht in einer liberalen Welt die Hypothese, wonach die Ideologie von der Familienstruktur bestimmt wird, der Vorstellung von einem Individuum, das ohne äußere Zwänge selbstständig und frei entscheidet und handelt.
Politische und wirtschaftliche Freiheit ist eine Illusion
Das Grundparadox einer Theorie, welche die Ideologie aus der Familienstruktur erklärt, liegt darin, dass sie beinhaltet, dass die Identifikation mit dem Ideal der Freiheit ihrerseits determiniert ist. Dieses Ideal entfaltet sich in den Regionen der Kernfamilie, einer anthropologischen Form, die nie mehr als ein Ehepaar und seine Kinder umfasst. In der Kernfamilie herrschen, bis zum Aufkommen politischer Philosophien nach Art John Lockes oder Jean-Jacques Rousseaus, zwischen den Generationen liberale Beziehungen.
Als die Bauern in den betreffenden Regionen schreiben und lesen lernen, werden sie politisch aktiv und fühlen sich „von Natur aus“ dem Ideal der Freiheit verpflichtet, für das sie freilich vorherbestimmt sind. Die politische und wirtschaftliche Freiheit äußert sich sehr wohl im politischen Leben und in der Geschichte auf ganz reale und konkrete Weise: Sie wirkt sich höchst förderlich auf das geistige und wissenschaftliche Leben aus. Das ändert nichts daran, dass diese Freiheit eine Illusion ist. Quelle: „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd
Von Hans Klumbies