Ein Leben, das versucht, den städtischen Raum unmittelbar zu bewohnen, ist zum Scheitern verurteilt. Denn der einzige wahre Stadtbewohner ist der Obdachlose. Er führt jedoch ein ungeschütztes, verletzliches Leben, das ihn tödlichen Gefahren aussetzt. Allen Übrigen erschließt sich die Stadt jedoch nur durch ein wie auch immer geartetes Zuhause. Emanuele Coccia hat Teile seines Lebens in Paris, Berlin, Tokio und New York verbraucht. Aber bewohnen konnte er diese Städte immer nur mit Hilfe von Schlafzimmern und Küchen, Stühlen, Schreibtischen, Schränken, Badewannen und Heizkörpern. Wohnen ist für Emanuele Coccia allerdings weit mehr als ein zu lösendes Raumproblem. Denn es bedeutet nicht, von etwas umgeben zu sein oder einen bestimmten Teil des auf der Erde verfügbaren Raumes zu okkupieren. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Das Zuhause ist für das persönliche Glück unerlässlich
Wohnen heißt, Beziehungen zu bestimmten Menschen und Dingen aufzubauen. Beziehungen, die so intensiv sind, dass man sie eben braucht wie die Luft zum Atmen. Das Zuhause ist eine Kraft, die das ganze Sein eines Menschen beeinflusst und damit alles, was sich innerhalb seines magischen Kreises befindet. Architektur und Biologie spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Denn jedes Haus, jedes Zuhause stellt eine moralische Realität dar.
Emanuele Coccia erläutert: „Wir bauen Häuser, um in gemütlicher Form den Teil der Welt zu beherbergen, der für unser persönliches Glück unerlässlich ist. Und dazu gehören nicht nur Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände, sondern auch Ereignisse, Erinnerungen, Vorstellungen und eine bestimmte Atmosphäre.“ Das Zuhause präsentiert eine materielle, Menschen und Gegenstände gleichermaßen einbeziehende Ordnung. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Haushalt der Dinge und Gefühle.
Glück ist weder ein Gefühl noch eine rein subjektive Erfahrung
Dieser Haushalt verbindet sich selbst und andere in einer räumlichen Einheit zu etwas, was man im weitesten Sinne als „Fürsorge“ bezeichnet. Glück ist weder ein Gefühl noch eine rein subjektive Erfahrung. Sondern es ist der willkürliche Gleichklang, der Menschen und Dinge für einen flüchtigen Moment ein einer engen körperlichen und geistigen Beziehung vereint. Dessen ungeachtet hat die Philosophie dem Zuhause bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Denn sie war vom männlichen Drang nach gesellschaftlicher Anerkennung und dem Streben nach Macht und Einfluss in der Stadt beseelt. Dadurch hat sie jahrtausendelang den häuslichen Raum vollkommen vergessen. Emanuele Coccia weiß: „Dabei ist sie mit ihm weit enger verbunden als mit jeder Stadt auf dieser Welt.“ Indem sie das Zuhause vergessen hat, hat sich die Philosophie allerdings auch selbst vergessen. Dabei war diese vernachlässigte Sphäre die Brutstätte der meisten Ideen, die sich auf den Planeten Erde und seine Geschichte ausgewirkt haben. Quelle: „Das Zuhause“ von Emanuele Coccia
Von Hans Klumbies