Emanuele Coccia entwirft eine Philosophie des Sinnenlebens

Emanuele Coccia widmet sich in seinem neuen Buch „Sinnenleben“ dem Sinnlichen, da das menschliche Leben wesentlich im Sehen, Fühlen, Schmecken, Riechen und Ertasten der Welt besteht. In Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte von Aristoteles bis Merleau-Ponty, von Averroes bis zur Anthropologie Helmuth Plessners entwirft er die Grundzüge einer neuen Philosophie des Sinnlichen. Nach einer kurzen Einführung ins Thema gliedert der Autor sein Werk in zwei große Blöcke. Der erste Teil handelt von der Physik des Sinnlichen. Der zweite Teil besteht aus einer Anthropologie des Sinnenlebens. Emanuele Coccia schreibt: „Wir wissen, wir können nur durch das Sinnliche leben, aber nicht nur, weil wir (er)kennen müssen, was uns umgibt: Das Sinnenvermögen ist mehr als ein Erkenntnisvermögen.“ Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Die Beziehung zur Welt ist sinnliches Leben

Der menschliche Körper ist ganz und gar sinnlich. Die Menschen sind für sich selbst wie für die anderen nicht mehr als eine sinnliche Erscheinung. In allem, was ein Individuum darstellt und macht, steht das Sinnliche im Vordergrund. Die Welt ist sinnliche Realität, und die Sorge um die Welt, deren Teil der Mensch ist, kann nur eine Sorge um das Sinnliche sein. Die Beziehung zur Welt ist sinnliches Leben: Empfindungen, Gerüche, Bilder, vor allem aber eine fortwährende Aktivität der Erzeugung sinnfälliger Realitäten.

Tatsächlich nimmt aus dem Sinnlichen auch all das Gestalt an, was die Menschen erschaffen und erzeugen. Dazu zählen nicht nur die eigenen Worte, sondern das gesamte Gewebe der Dinge. In diesem verdinglichen sich der persönliche Wille, die Intelligenz, die leidenschaftlichen Begierden und die unterschiedlichsten Vorstellungen. Die Welt ist weder eine schlichte Extension noch eine Objektsammlung, noch bestimmt sie die schlichte, abstrakte Möglichkeit der Existenz.

Jeder Mensch erzeugt unentwegt Sinnliches

Das Sinnliche, das Sein des Bildes, hat keine ausschließlich psychische oder geistige Konsistenz. Denn wenn dem so wäre, bräuchte man nur die Augen zu schließen, um die Welt zu sehen, zu hören, zu schmecken. Die Existenz des Sinnlichen fällt auch nicht mit der nackten Existenz der Welt und der Dinge zusammen. Denn die Dinge sind nicht das Sinnliche: Sie müssen erst sichtbar, hörbar, tastbar werden. Das tun sie allerdings immer nur außerhalb von sich selbst. Die Welt und ihre Dinge werden und sind Erscheinungen.

Das Sinnenleben erlischt nicht in dem Augenblick, in dem die Wahrnehmung vollzogen ist. Emanuele Coccia erläutert: „Das Sinnliche hat schon vor uns gelebt, und es lebt auch noch nach der Wahrnehmung in uns weiter. Es lebt, ähnlich wie das Grundraunen all unserer Gedanken.“ Und es existiert wie der lebendige Fluss aller Erinnerungen, wie der letzte Horizont, in dem alle Pläne und Handlungen eines Menschen Gestalt annehmen. Übrigens bleibt es nicht nur beim Empfangen von Sinnlichem. Jeder Mensch erzeugt unentwegt Sinnliches.

Sinnenleben
Eine Philosophie
Emanuele Coccia
Verlag: Hanser
Broschierte Ausgabe: 156 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-446-26572-1, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies