Im Spiegel werden Menschen unvermittelt zum reinen Bild. Sie entdecken sich verwandelt in das reine, immaterielle, unausgeweitete Sein des Sinnlichen. Emanuele Coccia stellt fest: „Unsere Form existiert außerhalb von uns selbst, außerhalb unseres Körpers, außerhalb unseres Bewusstseins. Wir sind zum reinen Sein der Erscheinung geworden, aber nur uns selbst gegenüber.“ Diesseits, in der Welt, in der die Menschen Seele und Materie sind, bietet sich die Erscheinung wie mit etwas anderem vermengt dar. Das ist vielleicht das kleine, große Geheimnis, das Spiegel seit Jahrhunderten in sich tragen. Sie lehren, dass jedes Bild – das Sinnliche als solches – die Existenz einer Form jenseits ihres Ortes ist. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Ein Bild ist wie eine List der Form
Jede Form und jedes Ding, der oder dem es gelingt, jenseits ihres oder seines Ortes zu existieren, wird zum Bild. Die Gestalt eines Menschen wird beispielsweise zum Bild, wenn sie jenseits von ihm, jenseits seiner Seele, jenseits seines Körpers existieren kann. Und das ohne selbst zu einem Körper zu werden, indem er sich auf der Oberfläche anderer Gegenstände aufhält. Ein Bild ist wie eine List der Form, um sich der Dialektik von Seele und Körper, von Materie und Geist zu entziehen.
Dabei handelt es sich um eine Möglichkeit, aus Körper und Seele herauszutreten, ohne ein anderer Körper zu werden. Es ist, als gäbe es für jede Form ein Leben jenseits des Körpers, bei dem sie verharrt. Wobei dieses dem „Leben des Geistes“ vorausgeht, das es bereits vor dem Eintreten in das Reich von Geist, Seele und Bewusstsein existiert. Das Bild entsteht und existiert immer nach dem Körper, dessen Form, letzter Ausdruck und Oberfläche es war. Es entwickelt sich jedoch immer vor dem Bewusstsein, in dem es neu empfangen und wahrgenommen wird.
Zum Bild kann jede Form werden
Der Spiegel ist die perfekte Inkarnation des metaphysischen Zwischenraums zwischen Körper und Seele. Er ist genau der Ort und die Zeit, in denen Formen sinnlich erfahrbar werden. Doch wie ist dann ein Bild zu definieren? In seinem Werk über die Optik behauptet Johannes Peckham, ein Bild sei nur eine „Erscheinung jenseits ihres Ortes, da Dinge schon immer anderswo erscheinen als dort, wo sie sind“. Das Sein der Bilder ist das Sein der Formen in einer ihrem natürlichen Subjekt fremden Materie.
Das eigene Bild ist nichts anderes als die Existenz der eigenen Gestalt außerhalb der eigenen Materie. Das Bild entsteht also, wenn die Form der Dinge und der Ort ihrer Existenz sich scheiden. Wo die Form außerhalb ihrer Heimstatt ist, findet ein Bild statt. Zum Bild kann jede Form werden, die aufhört, am eigenen Ort zu sein, und die außerhalb ihrer selbst existieren kann. Ein Bild zu sein, bedeutet, buchstäblich außer sich, dem eigenen Körper und der eigenen Seele fremd zu sein. Quelle: „Sinnenleben“ von Emanuele Coccia
Von Hans Klumbies