Emanuele Coccia weiß: „Die Metamorphose ist nicht nur ein Vorgang, der die Körpergestalt insgesamt betrifft. Sie ist auch das Verhältnis, das zwischen den Körperteilen untereinander entsteht und diese jeweils befähigt, einer Lebenslinie zu folgen und sich im Lauf ihrer Entwicklung zu entfalten.“ Sie ist auch das Äquivalenzprinzip aller Teile im Inneren eines Körpers. In Wirklichkeit ist der ganze Körper eines Menschen das Ergebnis der Verwandlung einer extrem reduzierten Portion Materie, die schritt- und etappenweise die unterschiedlichen Formen hervorbringen musste, die er entfalten kann. Die Metamorphose ist demnach nicht nur ein historischer Prozess, der die Konstitution des Lebendigen auf einer Linie differenzierter Stadien vorbestimmt. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
In jeder Pflanze gibt es einen metamorphischen Kern
Die Metamorphose ist auch und vor allem die synchronische Verbindung, die den aus verschiedenartigsten Formen und Funktionen zusammengesetzten Körper in etwas Einheitliches verwandelt, das eine einzige Lebenslinie durchlaufen hat. Emanuele Coccia stellt fest: „Die Biologie konnte diesen Aspekt erst erkennen, als sie sich vom Insektenleben abwandte und sich mit dem Pflanzenleben befasste.“ Und im Rahmen dieser Reflexion über die Metamorphose als plastische Kraft, die jedem Pflanzenkörper zu eigen ist, konnte sich ein Großteil dessen herausbilden, was man heute Entwicklungsbiologie nennt.
Die Idee, dass es im tiefsten Innern eines jeden pflanzlichen Wesens einen metamorphischen Kern geben muss, der niemals versiegt, legten als Erstes die Blüten nahe. Emanuele Coccia erklärt: „Die Frage war zunächst anatomischer Art. Die Blüte schien einen Körper zu haben, der von einer Gestalt zur anderen wechseln konnte, ohne jemals vorbestimmt zu sein, als wäre sie der stärkste und vollendete Ausdruck des Verwandlungsvermögens der Lebewesen.“
Alle Teile einer Pflanze sind äquivalent
Carl von Linné war der Erste, der dies bemerkte: Blüten und Blätter folgen demselben Prinzip. Emanuele Coccia erläutert: „Aufgrund dieser ursprünglichen Äquivalenz von Blüte und Blatt ist jedes Organ in der Pflanze mit jedem anderen austauschbar. Tatsächlich folgen auch Knospen und Blüten demselben Prinzip. „Die Knospe setzt sich aus Blattrudimenten zusammen. Die Stipula sind Blattfortsätze. Das Perianth ist aus konischen Blattrudimenten gebildet.
Durch Absonderung der Nahrungssäfte, die in die Kätzchen geleitet werden, entwickeln sich die Blätter zu Kelchen. Emanuele Coccia fügt hinzu: „Ein allzu üppiger Pflanzenwuchs lässt Blätter wachsen, wo man Blumen erwartet. Ein misslungener Pflanzenwuchs bringt Blumen an Stellen hervor, wo Blätter sein sollten.“ Die Blume ist lediglich die Evidenz, dass in der Pflanze alle Teile äquivalent sind. Aus dieser Perspektive kann der Pflanzenkörper vom Tierkörper nicht nachgeahmt werden. Während bei den Pflanzen alles von allem abgeleitet werden kann, ist es bei den Tieren nicht so. Quelle: „Metamorphosen“ von Emanuele Coccia
Von Hans Klumbies