Annahmen von Vulnerabilität wirken sich daraus aus, wie von gesellschaftlicher Seite mit Risiken umgegangen wird. Von zentraler Bedeutung für eine vulnerable Gesellschaft ist daher auch die Wahrnehmung von Risiken und die Frage, wie diese verarbeitet werden. Dabei möchte Frauke Rostalski dafür argumentieren, dass wachsende Zuschreibungen von Verletzlichkeit dazu führen, dass die eigenverantwortliche Risikobewältigung mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Begreifen sich Menschen zunehmend als vulnerabel, liegt es nahe, dass sie im Umgang mit Risiken nach externer, vor allem staatlicher Unterstützung verlangen. In den Worten der Philosophin Svenja Flaßpöhler: „Je empfindsamer der Mensch für Gewalt, Leid, Tod wird, desto größer das Begehren, diese Gefahren verlässlich zu bannen. Je sensibler eine Gesellschaft, desto lauter der Ruf nach einem schützenden Staat.“ Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsrecht, Medizinstrafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.
Frauke Rostalski porträtiert eine vulnerable Gesellschaft
Für diese Entwicklung sprechen nicht zuletzt aktuelle Vorschläge aus dem rechtswissenschaftlichen Spektrum. Im ersten Kapitel ihres Buchs „Die vulnerable Gesellschaft“ geht es Frauke Rostalski nicht um eine Diagnose mit Blick auf die gegenwärtige deutsche Gesellschaft. Das hier gezeichnete Porträt einer vulnerablen Gesellschaft dient als analytisches Konstrukt. In dieser Eigenschaft bleibt es notwendig abstrakt und einseitig. Für die spätere Analyse kann auf dieses wichtige Instrument gleichwohl nicht verzichtet werden – im Gegenteil.
Das Denken in den Kategorien von Verletzlichkeit und Resilienz hat lange Zeit ein Schattendasein in spezifischen fachwissenschaftlichen Diskursen und einzelnen Disziplinen geführt. Frauke Rostalski stellt fest: „Das hat sich mit den Coronajahren geändert. Vulnerabilität hat als gängiger Begriff Einzug gehalten in die allgemeine öffentliche Diskussion. Sie findet sich als wichtige Kategorie nicht nur in Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates, sondern auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.“
Der Begriff der Vulnerabilität hat sich etabliert
Leitartikel überregionaler deutscher Tageszeitungen nehmen auf die Vulnerabilität einzelner Menschen ebenso selbstverständlich Bezug wie Studiogäste in abendlichen Talkshowformaten. Frauke Rostalski fügt hinzu: „Die darin liegende Erweiterung des öffentlichen Sprachschatzes findet ihren Ausgangspunkt in dem Bemühen, die besondere Betroffenheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen durch Ereignisse, Umwelteinflüsse oder Verhaltensweisen zum Ausdruck zu bringen.“
Diese Bedeutung von Vulnerabilität leitet sich aus einer Verwendung des Begriffs im Kontext der Pandemie ab, wo er weit überwiegende Interessen des Gesundheits- und Lebensschutzes zum Ausdruck brachte. Frauke Rostalski betont: „Vulnerabilität war hier mehr als eine allgemeine Verletzlichkeit, die alle Menschen charakterisiert. In Zeiten der Pandemie bezeichnete Vulnerabilität keine bloße Conditio humana, sondern diente der Kennzeichnung einer besonderen Verletzlichkeit.“ In dieser Bedeutung setzt sich die Konjunktur des Begriffs der Vulnerabilität mittlerweile weit über den Bereich der Coronapandemie fort. Quelle: „Die vulnerable Gesellschaft“ von Frauke Rostalski
Von Hans Klumbies