Das 20. Jahrhundert war eine Zeit der Vertreibung

Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter der gewaltsamen Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat, von Flucht und Entwurzlung. Flucht und Elendsmigration hat es zu unterschiedlichen Zeiten in der ganzen Welt gegeben. So etwa in den 1970er Jahren, als eine riesige Fluchtwelle der „Boatpeople“ in Asien anhob. Seit den Massenvertreibungen und Deportationen während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa von keiner Zwangsmigration vergleichbaren Ausmaßes heimgesucht worden wie in den 1990er Jahren. Edgar Wolfrum erklärt: „Als Jugoslawien zerfiel und man auf dem Balkan Kriege führte, setzten massive Vertreibungen und ethnische Säuberungen ein. Fünf Millionen Menschen waren von diesem neuen nationalistischen Wahn betroffen.“ Seit der Jahrtausendwende versuchen nun Jahr für Jahr Tausende von afrikanischen Elendsflüchtlingen nach Europa zu gelangen. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

Sehr viele Flüchtlinge sind im Mittelmehr ertrunken

Dann kam der Bürgerkrieg in Syrien hinzu und setzte Hunderttausende vor dem Krieg flüchtende und Hilfe suchende Menschen in Bewegung. Der gescheiterte „Arabische Frühling“ in den Jahren nach 2010 zog in einigen Ländern Nordafrikas einen Staatsverfall nach sich, besonders augenfällig in Libyen. Dort organisierten sich kriminelle Schlepperbanden, die aus der Not der Menschen Profit schlugen. Sie brachten Tausende von Flüchtlingen vor allem auf die nahe gelegene italienische Insel Lampedusa.

Diese große Zahl überforderte die Behörden der kleinen Insel, aber auch jene Siziliens, und führte zu menschenunwürdigen Situationen. Edgar Wolfrum stellt fest: „Ganz Europa schien sich darauf zu verlassen, dass Italien die Sache mit den Flüchtlingen schon regeln werde.“ Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2013 waren 3648 Menschen in Lampedusa – wo nur 5.000 Menschen wohnen – gestrandet. Wie viele Personen bei diesen Tragödien des Menschenhandels im Mittelmeer ertrunken sind, lässt sich nicht mehr feststellen.

Unzählige Flüchtlinge leben jahrelang in Lagern

Man muss sich zunächst die weltweiten Zahlen vor Augen führen, um die Dimensionen überhaupt ermessen zu können. Ende 2016 gab es weltweit 65,6 Millionen Zwangsmigranten, davon 22,5 Millionen Flüchtlinge, die über unmittelbare Staatsgrenzen und oft über Kontinente hinweg unterwegs waren. Edgar Wolfrum ergänzt: „40,3 Millionen Menschen kann man als Binnenvertriebene bezeichnen; sie flohen innerhalb der Staatsgrenzen.“

2,8 Millionen Menschen galten aus politischen, religiösen und weiteren Gründen als Asylsuchende. Hinzu kamen Millionen von Menschen, die aufgrund des Klimawandels ihre Heimat verloren hatten. Zwischen 2012 und 2016 stieg die Zahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden um 45 Prozent an. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge stammte 2016 aus nur drei Ländern: Syrien, Afghanistan und dem Südsudan. Die Flüchtlingssituationen dauerten zudem immer länger an; unzählige Flüchtlinge lebten jahrelang in Lagern, weil keine Lösungen gefunden wurden. Quelle: „Der Aufsteiger“ von Edgar Wolfrum

Von Hans Klumbies