Das Universum ist eine Maschine, und deren Bestandteile können gemessen werden – das ist eine der Grundannahmen der mechanistischen Ideologie. Mattias Desmet weiß: „Messungen und Berechnungen sind das Fundament ihrer Art und Weise, Erkenntnisse zu gewinnen. Und dieses epistemologisches Ausgangspunkt hat Folgen für das gesellschaftliche Idealbild.“ Das ist an diese Ideologie gekoppelt und lässt sich in etwa so beschreiben: Die Gesellschaft wird idealiter von Experten-Technokraten geführt, die auf der Grundlage objektiver, zahlenmäßiger Informationen Entscheidungen treffen. Mit der Coronakrise kommen wir einer solchen Gesellschaft plötzlich sehr nahe. Diese Krise ist daher auch ein prädestinierter Fall, um das Vertrauen in Messungen und Zahlen einer kritischen Analyse zu unterwerfen. Mattias Desmet ist Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent.
Gesellschaften wurden auf der Basis von Erzählungen geführt
Bisher wurden Gesellschaften weniger auf der Basis zahlenmäßiger Informationen geführt als vielmehr auf der Basis von Erzählungen, zuerst mythischen und religiösen und später politischen Erzählungen. Mattias Desmet fügt hinzu: „Die mechanistische Ideologie muss dagegen natürlich ihre Bedenken haben. Diese Erzählungen sind im Wesen irrational und subjektiv; sie sagen in gewissem Sinne mehr über denjenigen, der sie erfindet, als über die sogenannte objektive Wirklichkeit.“
Erzählungen bestehen aus Worten, Worten, die alles Mögliche bedeuten können, die kein festes, rationales Verhältnis zu den Fakten haben. Und ohne rationale Grundlage gerät der Mensch ins Treiben – so glaubt diese Ideologie. Mattias Desmet betont: „Die Großen Erzählungen gereichen gewöhnlich demjenigen zum Vorteil, der sie erfindet – man denke an die Ablässe des Klerus und die Pöstchen der Politiker.“ Menschen sollten dies nicht zu leicht nehmen. Letztlich führen sie zu himmelschreiendem Machtmissbrauch und grotesken Gräuel. Die rituell verbrannten Witwen in Indien und die ertränkten Hexen in Europa sind nur einige stille Zeugen aus einer endlosen Reihe.
Zahlen sind ein Gegengift zu Machtmissbrauch und absurden Gräuel
So geriet die Gesellschaft vom Regen in die Traufe: Erzählungen – Subjektivität – Irrationalität – himmelschreiendes Unrecht – absurde Gräuel. Mattias Desmet stellt fest: „In dieser Hinsicht bietet die Coronakrise unerwartet ein „window of opportunity“ für diese Ideologie: Die Unsicherheit und die Angst vor dem Virus schufen die Basis, um eine Gesellschaft zu verwirklichen, in der Entscheidungen auf der Grundlage von Zahlen getroffen werden.“
Jetzt betrifft das nur noch „einfache“ Zahlen über Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle, aber in Zukunft könnten hochtechnologische, biometrische Daten hinzukommen, die nahezu jeden Aspekt der körperlichen Funktionen exakt erfassen. Mattias Desmet ergänzt: „Im Gegensatz zu Worten bilden Zahlen eine objektive Basis, um transparente und rationale Entscheidungen zu treffen. Als solche sind sie ein Gegengift zu Machtmissbrauch und absurden Gräueln.“ Quelle: „Die Psychologie des Totalitarismus“ von Mattias Desmet
Von Hans Klumbies