Religionsgemeinschaften sind geprägt durch religiöse Erfahrungen und Dogmen, also Glaubenssätze, die nicht zur Disposition stehen. Julian Nida-Rümelin ergänzt: „Das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundelementen ist von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft sehr unterschiedlich gestaltet. In manchen spielen Dogmen die zentrale Rolle, in anderen kann von einem festen Bestandteil von Dogmen, die die Religionsgemeinschaft bestimmen, keine Rede sein.“ Auch die abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, unterscheiden sich diesbezüglich voneinander. Nicht-monotheistische Religionen verzichten oft ganz oder jedenfalls weitgehend auf Dogmengebäude. Wo immer aber religiöse Dogmen eine Rolle spielen, führt dies zur Unterscheidung zwischen denjenigen, die diese Dogmen nicht infrage stellen, und solchen, die sie anzweifeln oder nicht akzeptieren. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.
Im Zenbuddhismus ist der Übergang zur Mystik fließend
Julian Nida-Rümelin weiß: „Der Umgang mit Dissidenz reicht von der Drohung mit dem Tode gegenüber denjenigen, die sich von ihrem – islamischen – Glauben abwenden, bis zur umfassenden Toleranz, besonders in einigen buddhistischen Religionsgemeinschaften, die ihre neue westlichen Anhänger sogar davor warnen, ihren ursprünglichen Glauben abzulegen, und den Kombinationen aus buddhistischen und konfuzianischen, christlichen oder shintoistischen Glaubensinhalten mit großer Toleranz begegnen.“ Diese Toleranz ist so groß, dass manche Theologen dem Buddhismus seinen Religionscharakter absprechen.
In der Tat ist der Übergang insbesondere im Zenbuddhismus zu einer philosophisch grundierten Mystik fließend, wie etwa die sogenannte Kyōto-Schule zeigt. Julian Nida-Rümelin fügt hinzu: „Die meisten muslimischen Gemeinschaften legen dagegen auf die Unvereinbarkeit ihrer Dogmen und Lebensvorschriften großen Wert.“ Christliche Religiosität dagegen scheint mit animistischen Traditionen gut vereinbar zu sein. Das zeigen zahlreiche Synkretismen in Afrika, aber auch in Brasilien, während sich muslimische Religionsgemeinschaften als radikale Alternative verstehen und jede Verbindung mit animistischen Traditionen strikt ablehnen.
Klerikale Gelehrsamkeit entscheidet über Autorität und Macht
Die Kulturkämpfe, insbesondere in der Sahelzone zwischen muslimisch und christlich geprägten Landesteilen, beziehen auch aus diesem Unterschied ihre Unversöhnlichkeit. Julian Nida-Rümelin erläutert: „Klerikale Gelehrsamkeit entscheidet in manchen Religionsgemeinschaften über Autorität und Macht. Ayatollah Khomeini galt auch in seinem Pariser Exil vielen Iranern unzweifelhaft als politische Autorität, weil er als höchster schiitischer Gelehrter seines Landes unumstritten war.“ Klerikale Autorität geht in der Regel mit dem Phänomen der Häresie einher.
Sie sichert sich ab, indem sie abweichende Meinungen kritisiert, verfolgt und zum Schweigen bringt. Julian Nida-Rümelin nennt ein Beispiel: „Die sich über Jahrhunderte ziehende Blutspur der Ketzerprozesse im christlichen Abendland legt davon ein grausames Zeugnis ab.“ Dabei ging es meist simultan um die Bestimmung von Rechtgläubigkeit – um Fragen wie: Was machen den „richtigen“ christlichen Glauben aus? Welche Dogmen sind für diesen unantastbar? – und die Sicherung klerikaler Macht gegen ihre Bedrohung durch Konkurrenten. Quelle: „Cancel Culture“ von Julian Nida-Rümelin
Von Hans Klumbies