Die Wirtschaft arbeitet ohne politische Kontrolle

Jenseits der Frage, wie Demokratie heute zu denken ist, bleibt jedoch die von Colin Crouch geäußerte Besorgnis, dass jede Variante von Demokratie heute nur noch ein Spiel an der Oberfläche darstellt, hinter der sich die Akteure der Wirtschaft und die Interessen des Profits als die eigentlich treibenden Kräfte ohne jede politische Kontrolle durchsetzen. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Die Frage nach dem Staat ist heute immer auch die Frage, welche Mittel und Wege staatlichem Handeln noch zur Verfügung stehen, um ordnungspolitische Aufgaben zu erfüllen und jene Regeln zu definieren und zu setzen, die den Menschen nicht nur ihre Freiheit garantieren, sondern auch davor schützen, dass alle Lebensbereiche den Prinzipien des Marktes beziehungsweise den Interessen monopolähnlicher Marktbeherrscher unterworfen werden. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Michael Sandel unterscheidet zwischen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft

In seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“ hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel die These vertreten, dass man zwischen einer „Marktwirtschaft“ und einer „Marktgesellschaft“ unterscheiden müsse: „Eine Marktwirtschaft ist ein Werkzeug – ein wertvolles und wirksames Werkzeug – für die Organisation produktiver Tätigkeit. Eine Marktgesellschaft jedoch ist eine Lebensweise, in der das Wertsystem des Marktes in alle Aspekte menschlicher Bemühungen eingesickert ist. Sie ist ein Ort, an dem alle sozialen Beziehungen marktförmig geworden sind.“

In einer Marktgesellschaft steht tatsächlich alles zum Verkauf: menschliche Bindungen, Familienleben, medizinische Versorgung, Bildung, nationale Sicherheit, Zugehörigkeiten. Konrad Paul Liessmann nennt ein Beispiel dafür: „Früher hatte Staatsbürgerschaft noch irgendetwas mit der Identifikation eines Menschen mit einem politischen Gemeinwesen zu tun – man denke an Ehrenbürgerschaften – war Ausdruck für Verdienste um eine politische Gemeinschaft. Heute ist es etwas, was in Malta etwa 650.000 Euro kostet.“

Zwischen Markt und Gesellschaft muss eine sinnvolle Grenze gezogen werden

Wer kein Geld hat und nach Europa will, ertrinkt womöglich in Lampedusa; wer Geld hat, ist binnen weniger Minuten ein Bürger der Europäischen Union. Wenn man Staatsbürgerschaften, die ja einen hoheitlichen Akt darstellen, kaufen kann, warum dann nicht auch Gerichtsurteile, Diplomzeugnisse, Doktorate, Wählerstimmen und die Wahrheit? In vielen Bereichen der Güterproduktion und der Dienstleistungen ist der Markt ein hervorragendes Instrumentarium. Aber das heißt noch lange nicht, dass man alle Lebensbereiche wie Bildung, Recht- und Gesundheitssystem bis zu Kunst und Kultur, nach vermeintlichen Marktprinzipien organisieren muss.

Es gehört auch zu den großen Aufgaben der Gegenwart, sich diesen Phänomenen bewusst zu werden und nach Möglichkeiten einer sinnvollen Grenzziehung zwischen Markt und Gesellschaft zu suchen. Viel wäre laut Konrad Paul Liessmann schon gewonnen, wenn man zumindest davon ausgehen könnte, dass Dinge, auf die Menschen einen Rechtsanspruch haben, nicht den Märkten allein überantwortet werden können, denn Märkte schaffen Optionen für zahlungsfähige Marktteilnehmer, Menschenrechte können aber nicht an Zahlungsfähigkeit gekoppelt sein. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies