Die Wandlung des Internets von einer schönen Idee zur Ideologie

Eine Weile lang schien das Internet die Gesellschaft in fast allen Bereichen zu revolutionieren. Das Alte, das Konservative, das Traditionelle schien endgültig der Vergangenheit anzugehören. Die neue Partei der Piraten versprach nicht mehr und nicht weniger als eine „flüssige Demokratie“, die mit ihrer Bürgernähe den ausgedienten Parlamentarismus ersetzen würde. Spontane Kampagnen im Netz sollten nach dem Willen der Piraten die mühsame Kompromisssuche ersetzen, wie sie in Demokratien, die auf der Basis des Aushandelns agieren, üblich ist. Eine wahre Revolution der Transparenz schien auszubrechen, die direkte Demokratie, in der jeder bei wichtigen Entscheidungen mitreden darf, stand in den Startlöchern. Die Stars der Piratenpartei erklommen die Titelseiten, trieben die etablierte Politik und einen Teil der Medien mit ihrer Offenheit vor sich her.

Das Internet neigt zur Hysterie und produziert heftigste Ausschläge

Die Utopie, einhergehend mit der Phantasie der Erlösung, die mit dem Internet verbunden wurden und von manchen immer noch nicht aufgegeben worden sind, hat sich größtenteils nicht erfüllt. Die Kapitäne der Piratenpartei haben sich selbst entzaubert, an die Stelle grenzenloser Begeisterung ist die Enttäuschung der Ernüchterten getreten. Vor allem die Piraten, die mit Themen anstelle von Personen eine neuartige Politik machen wollten, kommen aus dem selbstverursachten Chaos um ihr Personal nicht mehr heraus.

Aus aktuellen Umfragen geht hervor, dass die Piratenpartei unter die fünf Prozentmarke gerutscht ist und ihr Einzug im nächsten Jahr in den Bundestag alles andere als sicher erscheint. An der Piratenpartei ist ein Phänomen zu beobachten, das für das Internet typisch ist: zuerst der rasend schnelle Aufstieg und anschließend der jähe Fall. Das World Wide Web ist ein Medium, das zur Hysterie neigt und heftigste Ausschläge produziert: die Kraft des Riesen und die Ohnmächtigkeit des Zwergs liegen manchmal nur ein paar Klicks auseinander.

Der Parlamentarismus ist mindestens so weise wie die direkte Demokratie des Internets

Hinter dem Hype und der Selbstmontage der Piratenpartei verbirgt sich noch eine weitere Einsicht: es war ein Fehler, die neuesten Entwicklungen einfach hochzurechnen. Es ist niemals sicher, ob sie auch in der Zukunft gelten. Die Umbrüche, die durch das Internet verursacht werden, sind rasend schnell, müssen aber nicht von langer Dauer sein. Obwohl es mit seiner Technologie Faszination ausstrahlt, heißt das noch lange nicht, dass es den traditionellen Medien und Politikstilen auf allen Gebieten überlegen ist. Es war ein großer Irrtum, die Innovationskraft des Internets in eine Ideologie zu verwandeln.

Der technologische Wandel des Politischen im Internet hat vielen Menschen die Chance eröffnet, bei der politischen Willensbildung mitzumischen. Diese kollidiert allerdings immer wieder mit der Trägheit politischer Parteien oder der gesättigten Klugheit von gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen. Ein sorgfältig argumentierendes Parlament, freie Medien und politische Verfahren, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern, erweisen sich auf einmal als mindestens genauso erstrebenswert wie die schönsten politischen Utopien im Internet.

Von Hans Klumbies