Die Deutschen wollen das lang verpasste Glück suchen

Helfen macht die meisten Menschen glücklich. In einem solchen Fall ist es ein beinahe anarchisches Glück. Eigentlich ist die Bundesrepublik Deutschland ein ziemlich glückliches Land. Es gibt seit sieben Jahrzehnten keinen Krieg und keine Diktatur. Deutschland und seine Bürger sind wohlhabend wie nie. Die Korruption ist auf einem niedrigen Level, das Bildungsniveau ist ganz ordentlich, die meisten Straßen sind in einem guten Zustand und in der Regel kommen auch die Züge pünktlich an. Und dennoch scheint die Hälfte der Bevölkerung gerade das Glück zu suchen: In Yogakursen, in Gruppen zur Selbsterfahrung und beim individuellen Coaching. Oder sie fahnden nach dem Glück auf Reisen in ihr Inneres, in der Wildnis oder in einem Wellnesshotel. Wieder andere hoffen das Glück an der Bar, beim Dating oder wenigstens mit einem Buch auf dem Sofa zu finden.

Seneca: „Alle wünschen sich ein glückliches Leben“

Es suchen vor allem jene Menschen nach dem Glück, die man eigentlich schon als glücklich bezeichnen könnte. Es sind vor allem die Gebildeten, die Wohlhabenden und die Avantgardisten, die sich auf die Suche machen. Ausgelöst wurde dies alles von einem Boom, der von einem Missverständnis lebt: dass die Glückssuche glücklich macht, am besten bis ans Lebensende. Dass Menschen nach dem Glück suchen, ist allerdings auch Teil des Menschseins. Schon der römische Philosoph Seneca wusste: „Alle wünschen sich ein glückliches Leben.“

Gäbe es das Kribbeln nicht und die Ahnung, dass da mehr sein könnte als das gegenwärtige Leben, wäre die Menschheit in ihren Höhlen sitzen geblieben. Ohne den Rausch der erfüllten Sehnsucht hätte sie nie etwas riskiert. Gerade in Deutschland haben sich lange nur ganz wenige etwas getraut. Sie waren in der Regel ein Volk der Pflichterfüller, sie taten in Staat und Armee, Beruf und Kirche, was ihnen aufgetragen wurde. Glück bedeutete für diese Menschen, dies zur Zufriedenheit der anderen zu tun.

Ein immerwährender Glückszustand wäre eine Horrorvision

Ihre Philosophie war die der Stoiker, die danach strebten, Schwankungen im Seelenleben zu vermeiden. Für die Dichter der Romantik waren die Momente des Glücks damit erkauft, dass der Rest ihres Lebens aus unerfüllter Sehnsucht bestand. Für die anderen wartete das Glück vielleicht im Jenseits. Seit einigen Jahren aber scheinen die Deutschen das lang verpasste Glück finden zu wollen, und zwar möglichst schnell. Sie ändern beispielsweise ihre Schlaf- und Essgewohnheiten, üben sich in neuen Sportarten, suchen neue Jobs, weil die alten sie nicht mehr erfüllen, neue Bett- und Lebenspartner.

Für den weiten Markt der Glücksanbieter zwischen seriöser Lebensberatung und Scharlatanerie ist dieser Trend eine solide Gewinngarantie. Für die Schar der Glücksucher birgt er die Gefahr, mit ziemlich viel Kosten und Mühe unglücklich zu werden. Schon der Philosoph Arthur Schopenhauer wusste: „Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlange sehr glücklich zu sein.“ Denn der immerwährende Glückzustand wäre eine Horrorvision. Er wäre wie ein ständiger Rausch: Erst verschafft er Weite und Wonne, dann verlangt er nach einer Steigerung der Dosis und am Ende geht man daran zugrunde. Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies