Die Streitkultur ist die Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit

Für Carlos Fraenkel ist die Philosophie nicht eine Anleiterin oder Trösterin, sondern eine Diskussionstechnik. Viele Menschen sind in moralischen, religiösen und philosophischen Fragen weit voneinander entfernt. Diese Differenzen, obschon frustrierend, können etwas Positives sein, wenn es gelingt, sie zum Ausgangspunkt einer produktiven Streitkultur zu machen. Carlos Fraenkel erklärt: „Die gemeinsame Suche nach der Wahrheit, denn genau das verstehe ich unter Streitkultur, bietet uns die Möglichkeit, die Überzeugungen und Wertvorstellungen zu prüfen, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir meist für selbstverständlich halten.“ Das ist besser, als wenn man anderen die eigene Meinung aufzwingt oder sich in einer gleichgültigen Multikulti-Gesellschaft gemütlich einrichtet – so als wären die Unterschiede völlig unerheblich. Carlos Fraenkel ist James McGill Professor für Philosophie und Judaistik an der McGill University in Montreal.

Jeder sollte sich die Techniken des Debattierens aneignen

Unter „Philosophie“ versteht Carlos Fraenkel dabei nicht ein bestimmtes philosophisches Weltbild oder gelehrte Philosophiegeschichte, sondern philosophische Praxis: zum einen die Aneignung von Techniken des Debattierens – logische und semantische Werkzeuge, die es einem Menschen erlauben, seine Ansichten zu klären, Argumente zu formulieren und mit Gegenargumenten zu antworten, also eine moderne Form des aristotelischen Organon, des „Werkzeugkastens“ des Philosophen.

Zum anderen die Pflege von Tugenden des Debattierens – die Wahrheit für wichtiger halten, als den Meinungsstreit für sich zu entscheiden, und negative Gefühle wie Frustration und Angst kontrollieren zu können, die aufkommen, wenn die eigenen Grundüberzeugungen in Frage gestellt werden. Mit anderen Worten, eine Streitkultur gründet sich nicht auf dem sophistischen Geschick, den eigenen Standpunkt durchzusetzen, sondern auf dem dialektischen Geschick, gemeinsam mit anderen die Wahrheit zu ergründen.

Philosophische Argumente überwinden religiöse Grenzen

Die Techniken und Tugenden, die Carlos Fraenkel vorgestellt hat, sind nicht an ein bestimmtes Weltbild gebunden: Man kann mit ihnen für oder gegen Gott argumentieren, für oder gegen den Kapitalismus, für oder gegen den Klimawandel und so fort. Carlos Fraenkel betont: „In diesem bescheidenen Sinne kann Philosophie in einer zerrissenen Welt die Rolle einer Moderatorin übernehmen.“ Schon der jüdische Philosoph Maimonides (gestorben 1204) schrieb: „Man muss auf die Wahrheit hören, gleichgültig wer sie ausspricht.“

Philosophische Argumente haben zudem den Vorteil, dass sie über religiöse Grenzen hinweg ausgetauscht werden können. Vielen Leuten fällt es schwer, kulturelle Unterschiede anzusprechen. Carlos Fraenkel rät: „Anstatt so zu tun, als seien diese nicht wichtig, sollten wir sie lieber fruchtbar machen für das, was ich eine Kultur der Streites nenne: soziale und intellektuelle Räume, in denen wir lernen, die Dinge zu diskutieren, die uns am Herzen liegen, über die wir uns aber nicht einigen können.“ Quelle: „Über Gott und die Welt“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies