Die Romantiker wollten nicht in eine Phantasiewelt entfliehen

Das Ziel aller Romantiker war es ja, das „Mysterium“ Wirklichkeit neu zu entdecken und zu entschlüsseln. Man tut den sogenannten „Realisten“ ebenso unrecht, wenn man ihnen diesen höheren Begriff der Wirklichkeit abspricht, wie den sogenannten „Romantikern“, wenn man ihren Wirklichkeitssinn nicht anerkennt. Jürgen Wertheimer erklärt: „Ob Novalis oder Chateaubriand, Keats, Shelley, Eichendorff oder Heine – keinem von ihnen ging es darum, aus der Gegenwart in eine Phantasiewelt zu entfliehen.“ Sie wollten, im Gegenteil, die möglicherweise verborgene, aber existenziell entscheidende Seite der Wirklichkeit freilegen, „Priester“ der großen Geheimnisse, aber auch der „kleinen Dinge“ sein. Das trifft nur auf die große Ausnahmefigur Victor Hugo zu, sondern auch auf Kollegen wie Adalbert Stifter oder Gottfried Keller. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Bei Victor Hugo ist das Bild der Raum des Wesentlichen

Diese Schriftsteller arbeiteten ebenfalls sehr ernsthaft im Grenzbereich von Wort- und Bildkunst und waren dabei wie Victor Hugo auf der Suche nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit. Jürgen Wertheimer weiß: „Landschaften waren zumeist die Folie, auf der diese Suche betrieben wurde, aber auch die Welt der Dinge, bei Adalbert Stifter dezidiert die Welt der kleinen, kleinsten Dinge und Objekte: Fundstücke, Reste, Steine, Pfützen, Teiche.“ Noch entschiedener und programmatischer als Victor Hugo fürchteten Realisten wie Gottfried Keller oder Adalbert Stifter die Gefahr einer Flucht ins Suggestive, Rhetorische, Bodenlose.

Sie setzten dagegen: das Konkret-Anschauliche, das was sie mit eigenen Augen und Sinnen erfahren und durchdrungen hatten. Bloß keine „mythischen Eichenhaine“, lieber ein redlicher Blick übers Dach oder auf einen Stein. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Auch bei Hugo, selbst bei ihm, ist das Bild, die Zeichnung der Raum des Wesentlichen. Sie nimmt die Dinge als Dinge. Nimmt die Dinge vorweg. Oft lange bevor die Worte dafür gefunden sind.“ So wird die Wirklichkeit von zwei Seiten her lesbar, das Leben der Materie enthüllt anthropologische Gestalt.

Der romantische Zugriff ist zugleich hyper-realistisch

Diese Art der Annäherung mag manchem als überzogen oder auch spintisierend erscheinen. Bei genauerem Hinsehen aber wird erkennbar, dass der romantische Zugriff zugleich hyper-realistisch ist. Jürgen Wertheimer erläutert: „Es handelt sich um eine Art von Realismus, die so intensiv ist, dass man versucht, sie ins Halluzinatorische auszulagern. Jeder, der Augen hat und sich die Zeit nimmt, würde an einem Meeresstrand genau Hugos Farben und Formen sehen.“

Jürgen Wertheimer nennt Beispiele: „Die spritzende Schaumdecke nach jedem Wellenschlag, die Ausbreitung des Schaums, die Auflösung, mit Löchern, Blasen, Augen dazwischen, wie dann die Brüche breiter werden, ausfransen, Figuren, Grotesken, Sporaden aus Schaum bilden.“ All dies zeigt Hugo als einen Beobachter, nicht als Phantasten. Mit seinen grenzüberschreitenden, alle Wirklichkeitsebenen verschmelzenden, überwindenden Sichtweise steht er stellvertretend für fast alle europäischen Romantiker. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies

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