Im Grunde weckt der Begriff „Romantik“ heute völlig falsche Assoziationen. Jürgen Wertheimer erklärt: „Nein, es handelt sich um keine naive Gefühlsüberflutung, keine empfindsame Weltflucht. Es geht um nichts Geringeres als einen Umsturz der Wahrnehmung aus dem Geist der Poesie.“ Eine Revolution der Innenwelt, eine generelle Neuausrichtung der Wahrnehmungssensorien. Und das mit einer – trotz aller Verschiedenartigkeit der nationalen Situation – erstaunlichen Geschlossenheit. Denn im Grunde verbirgt sich hinter dem romantischen Aufbruch bei aller scheinbar Rückwärtsgewandtheit und Bizarrerie ein wesentlicher Schritt in Richtung Moderne. Alle romantischen Theoretiker sahen sich als Vertreter einer jungen, progressiven Bewegung, die einem neuen Denk- und Empfindungsstil den Weg bereiten sollte. Jürgen Wertheimer nennt Protagonisten August Wilhelm Schlegel, Novalis, Samuel Taylor Coleridge, John Keats, Victor Hugo und Alfred de Musset. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Victor Hugo sucht in Europa nach der Vergangenheit
Denn zu einem tragfähigen Konzept der Moderne gehörte ihrer Meinung nach eben nicht nur technischer Fortschritt, wie ihn die maschinelle, technokratische Seite der Aufklärung auf allen Gebieten, von der Medizin bis zur Baukunst, eingeleitet hatte. Ein Kurs, den das 19. Jahrhundert konsequent fortsetzen wird. Jürgen Wertheimer ergänzt: „Nicht nur die fast futuristischen Entwürfe der Revolutionsarchitektur waren ein Symbol der Modernität, sondern auch die „Ruinen“, die man auf dem Weg dorthin zurückgelassen hatte und weiterhin produzierte.“
Denn neben den Visionen, Utopien und dem Sog der Perfektion prägten die gedanklichen Hinterlassenschaften der früheren Jahrhunderte die Entwicklung. Es ist für Jürgen Wertheimer nicht übertrieben zu sagen, dass erst mit der Romantik ein gewisser Sinn für die Würde und Wichtigkeit historischer Abläufe in den Blick gekommen ist. Einer der großen französischen Romantiker, Victor Hugo (1802 – 1885), durchstreift halb Europa nach der Suche dieser Vergangenheit.
Die Romantik dachte in großen Zusammenhängen
Er kartographiert und dokumentiert seine Funde und Impressionen in Hunderten von Skizzen, deren Gehalt genau diese ins Leben eingegrabenen Verfallsprozesse sind. Vermoderte, zerfallene Reste der Macht, zernagte Skelette ehemaliger Bedeutsamkeit. Jürgen Wertheimer weiß: „In seinem monumentalen Versepos „Die Legende der Jahrhunderte“ – mehr als zwanzig Jahre, von 1855 bis 1876, arbeitete er daran – unternimmt er es, den Atem einer „big history“ von den Anfängen bis zur Gegenwart spürbar zu machen.“
Die Idee einer poetischen Geschichtsschreibung, die Weltzusammenhänge im Ganzen erfasst und erzählt, brach sich Bahn. Der Künstler sah sich in der Rolle des Weltenbauers, fähig, übergeordnete Gesetze von Verfall und Erneuerung zu erkennen und Tausende und Abertausende verwirrender Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zu fügen. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Die Romantik dachte in großen, umfassenden Zusammenhängen.“ Friedrich Schlegel nannte das „Progressive Universalpoesie“. Sie war die Formel der Stunde. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies