Die Reichen profitieren am meisten vom Sozialstaat

Für den Philosophen und Mathematiker Boris Groys dient der Sozialstaat, wie jeder Staat, weder der Gleichheit noch der Gerechtigkeit, sondern vielmehr der Sicherheit. Und es ist der Sozialstaat, dem die heutigen vermögenden Klassen ihren Reichtum zu verdanken haben. Der Staat ist per definitionem hierarchisch aufgebaut und verfügt über die Mittel, seine Beschlüsse, wenn notwendig, auch mit Gewalt, durchzusetzen. Schon deswegen kann der Staat zu keinem Ort der Gleichheit werden. Boris Groys vertritt die These, dass der Staat nicht nur auf Ungleichheit basiert, sondern Ungleichheit auch noch selbst erzeugt. Allerdings ändert sich die Art der Ungleichheit, die ein Staat erzeugt, entsprechend seiner jeweiligen Ausrichtung.

Der Staat erzeugt Ungleichheit

So förderte beispielsweise der absolutistische Staat die Fähigkeit zur höfischen Intrige und zur internationalen Diplomatie. Der kapitalistische Staat hat dagegen die Entstehung des Marktes ermöglicht und die Regeln festgelegt, nach denen der Markt funktioniert. Laut Boris Groys erzeugt der Sozialstaat eine riesige Masse von armen, aber nicht völlig verarmten Konsumenten, die in großer Zahl billige Produkte kaufen und dadurch zur Entstehung großer Vermögen beitragen.

Das heutige Kapital verkauft den Sozialstaat an ihn selbst und verdient dabei in einem Ausmaß, wie man es sich früher nicht vorstellen konnte. Das gilt nicht nur für Deutschland sondern fast auf der ganzen Welt. Die weltweite soziale Fürsorge schafft eine riesige Masse von Konsumenten, die zwar arm sind und manchmal am Rande des Existenzminimums leben, aber zusammengefasst eine immense Kaufkraft besitzen.

Boris Groys: „Die Eliten lieben die Massen, die sie melken“

In früheren Zeiten bediente die Wirtschaft in erster Linie die vermögenden Klassen. Wer kein Geld hatte, konsumierte kaum, sondern produzierte nur. Die Kaufleute wurden reich, wenn sie an Reiche ihre Waren verkauften. Boris Groys ist davon überzeugt, dass in unserer Zeit nur diejenigen wirklich erfolgreich sind, die möglichst billig und an möglichst viele verkaufen. Der billige Massenkonsum dominiert den Markt. Die globale Kulturindustrie setzt in erster Linie auf möglichst billige Unterhaltung, auf Erfolg bei den untersten Einkommensschichten.

Zwischen den heutigen globalen Geldeliten und den heutigen globalisierten Massen gibt es laut Boris Groys zwar eine finanzielle, aber keine kulturelle Distanz. Die Eliten lieben die Massen, die sie melken. Ein Klassenkampf von oben ist für den Philosophen aus ökonomischen und kulturellen Gründen deshalb völlig ausgeschlossen. Die heutigen Geldeliten leben in einem harmonischen Verhältnis mit dem Sozialstaat, sie teilen seine Kultur und sind mit ihm in gegenseitiger Liebe verbunden.

Das Elend der Mittelschicht

Boris Groys hat herausgefunden, dass weder die Eliten noch die Massen mit dem Sozialstaat unzufrieden sind, sondern einzig und allein die Mittelschicht. Denn die Mittelschicht zahlt einen großen Teil der Steuern, profitiert aber kaum vom Sozialstaat – das tun nur die großen Unternehmen. Zugleich beschleicht die Mittelschicht das Gefühl, dass sich niemand um sie kümmert und sie keiner versteht. Außerdem befindet sich die Mittelschicht zahlenmäßig in der Minderheit und ist somit für die Wirtschaft uninteressant.

Für Boris Groys ist es in erster Linie eine kulturelle Distanz, welche die gebildete Mittelschicht von der übrigen Gesellschaft, von den Massen wie von den Eliten trennt. Diese Ausgrenzung könnte in der Mittelschicht ein revolutionäres Potential erzeugen. Denn Boris Groys erwartet, dass diese Mittelschicht irgendwann zur Einsicht kommt, dass es ziemlich widersinnig ist, eine gesellschaftliche Struktur zu tragen, von der nur andere profitieren. Erst wenn die Mittelschicht zu dieser Einsicht gelangt, kann man wirklich einen neuen politischen Kampf erwarten – eine neue Revolution der Tugend.

Von Hans Klumbies