Die Philosophie spricht heute nicht mehr über die Liebe, oder nur selten. Dieses Schweigen ist übrigens besser, als dass sie sie schlechtmacht oder verrät, wenn sie denn einmal wagt, über sie zu sprechen. Man könnte fast bezweifeln, dass die Philosophen sie überhaupt erfahren, wenn man nicht eher glauben würde, dass sie sich davor fürchten, etwas über sie zu sagen. Jean-Luc Marion verteidigt dieses Verhalten: „Mit Recht, denn sie wissen besser als alle anderen, dass wir nicht mehr die Wörter haben, sie zu benennen, noch die Begriffe, sie zu denken, noch die Kraft, sie entsprechend zu würdigen.“ Die Philosophen haben sie faktisch aufgegeben, sie ihres Begriffs entledigt und schließlich an die dunklen und beunruhigenden Ränder ihrer zureichenden Vernunft verwiesen – zusammen mit dem Verdrängten, dem Ungesagten und dem, was man sich nicht eingestehen will. Der französische Philosoph Jean-Luc Marion lehrte Philosophie an der Sorbonne in Paris. Im Jahr 2008 wurde er als Mitglied in die Académie française gewählt.
Die Philosophie definiert sich als „Liebe zur Weisheit“
Eine solche Flucht vor der Frage nach einer begrifflichen Bestimmung der Liebe sollte eigentlich Anstoß erregen, umso mehr, als die Philosophie in der Liebe selbst und in ihr allein – „diesem großen Gott“ – ihren Ursprung hat. Die Philosophie definiert sich als „Liebe zur Weisheit“, weil sie tatsächlich mit dem Lieben beginnen muss, bevor sie behaupten kann, zu wissen. Um etwas begreifen zu können, muss man es zuvor begehren; oder anders ausgedrückt, man muss darüber erstaunt sein, dass man nicht begreift.
Und auch dieses Staunen bietet einen Anfang auf dem Weg zur Weisheit. Die Philosophie begreift nur in dem Maße, wie sie liebt. Um zur Wahrheit zu gelangen, muss man in allen Fällen diese zuerst begehren, also lieben. Die anfängliche Frage „Werde ich geliebt – von anderswoher? engt den Zugang zum Horizont der Liebe ebenso ein, wie sie ihn eröffnet. Deshalb muss man eine weitere hinzufügen, die diese ablöst – jene, die nach der Liebe fragt, ohne sie der vorausgehenden Bedingung der Reziprozität, also der Gerechtigkeit, zu unterstellen.
Ein Liebender kann nichts verlieren
Die Feststellung oder der bloße Verdacht, dass man nicht geliebt wird, verbietet es im Prinzip niemals, selbst als Erster zu lieben. Jean-Luc Marion ergänzt: „Auch wenn mich niemand liebt, ist es dennoch nicht unmöglich, selbst den zu lieben, der mich nicht liebt, zumindest sooft und solange ich mich dafür entscheide. Er mag mich nicht lieben, solange er will, er mag mich so wenig lieben, wie er mag, er wird mich niemals daran hindern, dass ich ihn liebe, wenn ich es so entschieden habe.“ Der Liebende hat das unvergleichliche Privileg, nichts zu verlieren, auch wenn er zufällig nicht geliebt wird.
Auch eine geringgeschätzte Liebe bleibt dennoch ganz und gar eine vollendete Liebe, so wie ein nicht angenommenes Geschenk ganz und gar ein gegebenes Geschenk bleibt. Die Liebe breitet sich mit Verlust aus beziehungsweise verliert sich als Liebe. Je mehr man mit Verlust liebt, desto mehr liebt man ganz einfach. Jean-Luc Marion fügt hinzu: „Je mehr ich mit Verlust liebe, desto weniger verliere ich die Liebe aus dem Auge, denn die Liebe liebt grenzenlos. Die Liebe als Tat zu vollbringen fürchtet den Verlust nicht, sondern besteht gerade in dieser Freiheit zu verlieren.“ Quelle: „Das Erotische. Ein Phänomen“ von Jean-Luc Marion im Reclam Heft „Was ist Liebe?“
Von Hans Klumbies