Während das nach Selbstentfaltung strebende und an Statusinvestition orientierte Leben der neuen Mittelklasse ambitioniert ist, sind die Ansprüche der neuen Unterklasse gezwungenermaßen stark reduziert. Andreas Reckwitz erklärt: „Ihre Lebensform ist eine, die von der „Alltagslogik des muddling through“ strukturiert ist: Man muss irgendwie durchkommen, es irgendwie schaffen, sich „durchwursteln“, ja durchbeißen, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.“ Für den Alltag der Individuen aus der neuen Unterklasse sind damit zwei Elemente prägend: der Umgang mit permanenten Schwierigkeiten und der kurze Zeithorizont. Den Alltag beherrscht das Motiv der Schwierigkeiten, die man vermeiden will, die trotzdem auftreten und die man zu überwinden versucht. Von außen betrachtet, sind es scheinbar kleine Schwierigkeiten, die aber rasch existenzbedrohende Bedeutung erhalten können. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Ein Leben reduzierter Ansprüche prägt die neue Unterklasse
Andreas Reckwitz nennt Beispiele: „Krankheiten, die einen von der Arbeitsstelle fernhalten, Unfälle, Kündigung und Firmenbankrott, Sorgen mit dem Vermieter oder mit den Kindern in der Schule et cetera.“ Der erwünschte, aber unrealistische Zustand ist aus dieser minimalistischen Sicht ein Leben ohne existenziellen Störfälle. In diesem Leben reduzierter Ansprüche erscheint jedes langfristige Projekt der Selbstverwirklichung und der Valorisierung aller Lebensbereiche als undenkbar, ja extravagant.
Man hangelt sich vielmehr von Problem zu Problem, eine längerfristige Planung findet nicht statt, sondern lediglich ein kurzfristiges Ad-hoc-Reagieren, das die gezielte Statusinvestition in kulturelles, ökonomisches, soziales und Subjekt-Kapital, wie es für die neue wie alte Mittelklasse typisch ist, in der Regel ausschließt. Andreas Reckwitz fügt hinzu: „Es fehlen die Mittel und die Voraussicht, um in Vermögen und Bildung zu investieren, und auch das soziale Netzwerk ist begrenzt.“
Mit der Arbeit bestreitet die neue Unterklasse ihren Lebensunterhalt
Das Leben findet gewissermaßen am Rande der Überforderung statt. Andreas Reckwitz stellt fest: „Eine zentrale Rolle, um es zu meistern, spielen nicht Selbstverwirklichung oder Statusinvestition, sondern kommt der Selbstdisziplin zu, das kulturelle Erbe des alten Mittelstandes und der Industriearbeiterschaft, das in der neuen Unterklasse weiterwirkt, wo es nun allerdings ins Defensive gewendet wird.“ Selbstdisziplin ist nicht der Hintergrund, um sich einen Lebensstandard zu gönnen oder gar „aufzusteigen“, sondern um den Alltag zu bewältigen und nicht weiter „abzusteigen“.
Grundlegend für die Lebensform der Unterklasse ist das im Verhältnis zur neuen Mittelklasse völlig anders orientiertes Verhältnis zur Arbeit. Andreas Reckwitz erläutert: „Während letztere von der Arbeit sowohl Befriedigung und Identifikation als auch die Sicherung von sozialen Status und Einkommen für den elaborierten Lebensstil erwarten, ist die Beziehung zur Arbeit – falls vorhanden – seitens der neuen Unterklasse rein instrumentell: Die Arbeit dient ausschließlich dazu, den Lebensunterhalt zu bestreiten.“ Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz
Von Hans Klumbies