Die neue Sehnsucht nach Muße ist auf dem Vormarsch

Viele Menschen sehnen sich nach Muße – vor allem im Urlaub. Dieses Sehnen nach Langsamkeit ist mittlerweile so bedeutsam, dass sich jetzt sogar die Wissenschaft damit befasst. In Freiburg wurde jetzt sogar eigens ein interdisziplinärer Sonderforschungsschwerpunkt eingerichtet. Geleitet wird er vom Germanisten Peter Philipp Riedl, der Muße wie folgt definiert: „Sie bedeutet ein freies Verweilen in der Zeit, ohne dass wir einen Zweck mit unserem Tun verbinden.“ Gleichzeitig erwähnt er, dass dies ein Idealzustand sei, den kaum jemand noch erreicht. Besonders stark an Leistung orientierte berufstätige Menschen wünschen sich manchmal die „gute alte Zeit“ zurück, als alles noch etwas langsamer war. Gerade das Abendland hat allerdings eine lange Tradition darin, die Muße zu skandalisieren. Wenn jemanden Muße zugestanden wurde, dann nur der Elite.

Im Kapitalismus hat die Muße einen besonders schlechten Stand

Peter Philipp Riedl meint: „Das hält unter anderen sozialen Vorzeichen bis heute noch. Schon in der Antike war den Eliten die schöpferische Muße vorbehalten.“ Sich langweilen, einfach nur schlendern, dafür nehmen sich die meisten Menschen immer weniger Zeit. Und dass, obwohl Pädagogen und Neurowissenschaftler wissen, dass das Gehirn Ruhepausen braucht, um Gelerntes zu verarbeiten. Seit dem Aufkommen des Kapitalismus hat die Muße einen besonders schlechten Stand. Niemand hat das so gut in nur drei Worte gefasst wie der Amerikaner Benjamin Franklin: „Time is money“ – Zeit ist Geld –, lautete sein Credo.

Dieser Leitspruch ist aktueller denn je. Peter Philipp Riedl erläutert: „Der Zeitaspekt, der für die Muße elementar ist, wird hier auf konsequente Funktionalisierung hin gedacht. Nutze jeden Augenblick, der dir bleibt, um ökonomisch etwas zu maximieren.“ Es ist dabei einiges aus dem Lot geraten, das wieder justiert werden muss. Peter Philipp Riedl erklärt: „Ein Ansatz könnte sein, dass wir Arbeit mehr danach bewerten, welche Qualitäten sie hat, und weniger danach, wie lange jemand im Büro sitzt.“

Die Menschen sollten sich individuelle Freiräume schaffen

Wenn die Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen, so hat das volkswirtschaftliche Auswirkungen. Psychiater Joachim Bauer, der Teil des Freiburger Forschungsteams ist, erläutert: „Sie werden schneller krank und sterben sogar früher. Burnout und Depressionen nehmen zu.“ Dass heutzutage psychische Erkrankungen die häufigste Ursache für Frühpensionierungen ist, ist daher nicht verwunderlich. Der Soziologe Hartmut Rosa beklagt in diesem Zusammenhang die Beschleunigung, die durch die neuen Medien entstanden ist. Multitasking ist das Schlagwort.

Peter Philipp Riedl glaubt nicht, dass Menschen durch Multitasking schneller und effektiver sind: „Ich glaube, dass Zeitverdichtung zur Verlangsamung führt. Könnten wir nämlich an einer Sache ruhig arbeiten, würden wir sie zügiger erledigen.“ Die psychologische und psychosomatische Medizin beschäftigt sich deshalb damit, wie Muße, Kreativität und seelische Gesundheit gestärkt werden können. Eine anerkannte Methode, um abzuschalten, ist die „achtsamkeitsbasierte Intervention“. Eine Art Meditation, hinter der aber viel mehr steckt wie Peter Philipp Riedl weiß: „Es bedeutet, sich individuelle Freiräume zu schaffen, um sich dem Stress zu entziehen.“ Quelle: Kurier am Sonntag

Von Hans Klumbies