Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Befreiung von den Zwängen der Natur. Philipp Hübl erläutert: „Die frühen Menschen haben das Feuer zu beherrschen gelernt und sich mit Licht und Wärme von den Zwängen des Tagesrhythmus und des Jahreswechsels befreit.“ Sie haben Ackerbau betrieben und Vorräte angelegt, um von den Nahrungsquellen ihrer Umgebung unabhängig zu sein. Mit Wagen und Schiffen wurden sie unabhängig von ihrer Herkunft, mit Kleidung, Häusern und Staudämmen trotzten sie den Widrigkeiten der Witterungen. Durch die Medizin sind Menschen Infektionen nicht mehr hilflos ausgeliefert und durch die Telekommunikation nicht mehr an einen Ort gebunden, um sich auszutauschen. Moderne Wohnungen sind selbstgebaute Oasen, in denen Wärme, Licht, fließendes Wasser, eine weiche Schlafstätte, Nahrung, Musik und Unterhaltung sichergestellt sind. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Am Ende muss die Vernunft entscheiden
In der Kulturgeschichte haben die Menschen sich aber nicht nur von den äußeren Zwängen befreit, sondern auch gegenüber den inneren emanzipiert. Und zwar durch „Selbstzwang“ und „Langsicht“, wie der Soziologe Norbert Elias feststellt. Philipp Hübl ergänzt: „Man könnte auch sagen: Fortschritt beruht neben Offenheit auch auf Selbstkontrolle und Planung. Auch wenn es paradox klingt: Nur so konnten sich gesellschaftliche Freiheiten etablieren, die allen zugutekommen.“
Einige emotionale Neigungen der Arbeitsmoral eines Menschen stehen in Einklang mit einer universellen Ethik, andere nicht. Daher muss am Ende die Vernunft entscheiden. Philipp Hübl erklärt: „Unsere Angst hemmt uns, andere von Brücken zu schubsen, unser Mitgefühl bringt uns dazu, Kinder im Teich und Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten.“ Und der Gerechtigkeitssinn sensibilisiert Menschen dafür, dass die Weltordnung unfair ist. Diese Emotionen machen sie zu Verbündeten.
Die Moral ist komplex und schwierig
Gleichzeitig bergen einige emotionale Grundlagen der Moral jedoch die Gefahren, denn sie machen Menschen zu Feinden. Sie denken dann tribalistisch, legen zu viel Wert auf Status und Hierarchien. Zudem gieren sie nach Anerkennung und haben die Neigung, Angst vor dem Neuen und Abscheu gegenüber dem Fremden zu empfinden. Philipp Hübl stellt fest: „Die Kunst der Vernunft besteht also darin, auf die richtigen Gefühle zu hören und die falschen einzuhegen.“
Sie besteht auch darin anzuerkennen, dass die Moral graduell, komplex und schwierig ist und daher die Bereitschaft erfordert, sich selbst infrage zu stellen. Philipp Hübl weiß: „Die meisten progressiven Intellektuellen sehen sich als Gesellschaftskritiker. Ihre Analysen machen auf Missstände aufmerksam und warnen vor Gefahren für universelle Werte wie Fairness und Freiheit.“ Je alarmistischer sie dabei vorgehen, desto eher entsteht ein progressives Paradox. Ihr Pessimismus schafft ein Bedrohungsszenario, in dem konservatives und rechtes Denken gedeiht. Quelle: „Die aufgeregte Gesellschaft“ von Philipp Hübl
Von Hans Klumbies