Die Marktwirtschaft führt nicht automatisch zur Demokratie

Wahr ist, dass es Kapitalismus in Reinform nirgends gibt – und es wahrscheinlich nie gegeben hat. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ist er Teil eines größeren Deals geworden, der da lautet: Der Kapitalismus muss „liefern“, wie es der Soziologe Wolfgang Streeck genannt hat. Und zwar: Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, wachsenden Wohlstand, mehr Freiheit, Aufstiegschancen für jeden. Auf den Punkt gebracht: Nicht alle profitieren gleich, aber alle profitieren irgendwie. Hans-Werner Sinn, der bekannteste Ökonom der Deutschen, sagt: „Die Suche nach einem völlig anderen Wirtschaftssystem ist Kokolores. Aber daraus folgt nicht, dass ich den Status quo verteidigen möchte.“ Er sieht, dass Finanzkapitalismus völlig außer Kontrolle geraten ist. Hans-Werner Sinn hält es für reines Wunschdenken, dass eine Marktwirtschaft automatisch zur Demokratie führt. Und auch ein Hans-Werner Sinn zweifelt daran, dass Wirtschaftswachstum die Menschen wirklich glücklicher macht.

Der Staat ist dem Markt nicht überlegen

Doch das ändert alles nichts an seiner Überzeugung, dass die Erfindung der Märkte vor 10.000 Jahren die größte kulturelle Leistung der Menschheit ist. Irgendwann während seines Studiums hat Hans-Werner Sinn verstanden, dass der Staat dem Markt nicht überlegen ist, dass Marktwirtschaft nicht Chaos bedeute, sondern dass aus der Dezentralisierung die Ordnung entsteht. Nur Märkte, das ist das schärfste Argument von Hans-Werner Sinn können Anreize setzen, die individuell wirken und für jeden Marktteilnehmer die Vor- und Nachteile so ausbalancieren, dass am Ende das ökonomisch Beste dabei herauskommt.

Doch Kapitalismus ist mehr als nur Markt. Erst die unglaubliche Anhäufung von investiertem Kapital, die es seit 200 Jahren gibt, schafft etwas historisch Neues: ein Wirtschaftswachstum, wie es das nie zuvor gegeben hat, und eine völlig neue Konzentration von Vermögen und ökonomischer Macht. Hans-Werner Sinn erklärt: „Das eine bedingt wahrscheinlich das andere. Hätte man durch staatliche Eingriffe verhindert, dass die Reichen reich werden dürfen, hätte es wohl auch dieses Wachstum nicht gegeben.“

Hans-Werner Sinn fordert die Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmen

Hans-Werner Sinn fährt fort: „Unser ganzes Denken ist an Rangpositionen orientiert. Es geht immer um die Frage, an welcher Stelle der Skala man steht, das ist ein ungeheurer Antrieb.“ Reine Marktwirtschaft gebe es nirgends, sondern überall nur gemischte Systeme, in unterschiedlichen Ausprägungen. Hans-Werner Sinn erläutert: „Es findet ja Umverteilung statt in allen Systemen, die Frage ist bloß, in welchem Ausmaß.“ Für die deutschen Starökonomen ist diese Umverteilung grundsätzlich gerechtfertigt.

Hans-Werner Sinn schränkt allerdings ein: „Es muss irgendwo ein Optimum geben. Unklar ist nur, wo.“ Der Ökonom sieht allerdings eine Stelle, an der man den heutigen Kapitalismus durchaus radikal verändern könnte. Und zwar so, dass man den mühseligen und immer umstrittenen Prozess der Umverteilung abkürzen könnte: durch eine Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmen in großem Stil. Hans-Werner Sinn betont: „Man muss den Menschen ein zweites Standbein neben dem Arbeitseinkommen geben. Man muss sie auf die Kapitalseite bringen.“ Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar