Die Macht der Einbildung ist sehr groß

Die menschliche Einbildung verfügt über große Macht. Alles, was ein Mensch tun will oder getan haben könnte, vermag er sich im Geiste lebhaft durchzuspielen. Oft kommt es dann einem so vor, als hätte man etwas tatsächlich getan. Falsche Erinnerungen sind ein unvermeidliches Nebenprodukt der menschlichen Vorstellungsgaben. Wer das verstehen will, muss sich ansehen, wie das Gehirn funktioniert. Ob sich jemand ein Geschehen erinnert oder es nur fantasiert, macht kaum einen Unterschied. In beiden Fällen setzen sich verstreute Fragmente aus dem Gedächtnisspeicher zu einer neuen, möglichst stimmigen Szenerie zusammen. Auch die reine Fantasie entsteht aus dem, was dieser Speicher hergibt. Deshalb sind bloße Fantasien und echte Erinnerungen so leicht zu verwechseln. Beides schöpft der Mensch aus seinem Gedächtnisvorrat, und beides gelingt ihm ähnlich gut.

Erinnern ist ein sozialer Vorgang

Innere Abbilder von wirklich Erlebtem sind in der Regel nur reicher an Details, sie lassen sich leichter vor Augen rufen. Mit anderen Worten: Sie erscheinen Menschen auf besondere Weise vertraut. Die Londoner Psychologin Julia Shaw warnt: „Aber dieses Gefühl kann auch gekapert werden.“ Die meisten Menschen wissen nur allzu gut, wie leicht ihr Gedächtnis sie im Stich lässt – das macht sie anfällig. Auch im Alltag müssen die Mitmenschen oft die eigenen Gedächtnislücken füllen. Das Motto lautet: „Was der eine nicht mehr weiß, fällt dem anderen noch ein; der Dritte korrigiert es.

Julia Shaw erklärt: „Erinnern ist ein sozialer Vorgang.“ Wenn es um die Kindheit geht, sind die Eltern die erste Autorität. Sie überliefern die Geschichten, die man längst vergessen hat. Man muss es, wie vieles andere, einfach glauben – und in der Regel glaubt man es dann auch. So schreibt die Mitwelt mit an der eigenen Autobiografie. Was man erlebt hat, wird gemeinsam gepflegt: in Gesprächen und heute zunehmend auf Twitter und Facebook. Der ständige Austausch bringt das Erinnerte in Umlauf. Die Geschichten, ob wahr oder falsch, können sich ausbreiten wie Viren.

Im Rückblick wird Erlebtes verdichtet und geschönt

Nicht selten schleicht sich beim gemeinsamen Erinnern auch objektiv Falsches ein. Dies geschieht umso leichter, wenn es das Gemeinschaftsgefühl stärkt. Besonders leicht breiten sich Illusionen in Netzwerken von Menschen aus, die einander vertrauen. Es sind geteilte Erinnerungen, die das Weltbild einer Gemeinschaft schaffen, auch wenn dafür einiges umgedeutet der übertrieben, ausgelassen oder herbeifantasiert wird. Der New Yorker Psychologe William Hirst erläutert: „Das geschieht automatisch. Es ist eine unvermeidliche Folge sozialer Interaktion.“

Auch der Wegfall unpassender Inhalte zeigt, wie plastisch das Gedächtnis ist. Der amerikanische Psychologe Daniel Kahneman konnte nachweisen, wie stark Menschen Erlebtes im Rückblick raffen, verdichten und schönen – stets im Dienste eines erfreulichen, erzähltauglichen Gesamtbildes. Das Gedächtnis behält vor allem die Höhepunkte. Was langweilig war und widrig, verschwindet einfach; es wird, wie es scheint, nicht gebraucht. William Hirst glaubt, dass mit dem Teilen von Erinnerungen die soziale Geschichte der Menschheit begann. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies