Laut Hannah Arendt zählt die Wahrhaftigkeit niemals zu den politischen Tugenden, denn die Lüge gilt immer als erlaubtes Mittel in der Politik. Nicht alle haben dies so offen ausgesprochen wie Niccolò Machiavelli, der die Lüge für legitim hielt, wenn sie dem Machterhalt – das ist die böse Variante – oder dem Wohl des Volkes – das ist die gute Variante – diente. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Dass mit der Wahrheit in der Politik, in der es um Machtansprüche, um den Kampf zwischen Meinungen und Ideologien geht, wenig zu erreichen ist, mag ein Gemeinplatz sein. Dennoch überrascht es stets aufs Neue, mit welcher Verve ausgerechnet in diesem Feld Ehrlichkeit eingefordert und die Lüge als der große Sündenfall gebrandmarkt wird.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Es gibt kein Leben ohne Lüge
Über die moralische Bewertung der Lüge herrscht alles andere als Einigkeit. Und dies gilt nicht nur für die Politik. Konrad Paul Liessmann weiß: „Wirklich konsequent vertraten lediglich Augustinus und Immanuel Kant die Auffassung, dass es unter keinen Umständen erlaubt sein könne, zu lügen.“ Denn mit Lügen würde der menschlichen Kommunikation, die auf Vertrauen beruht, der Boden unter den Füßen weggezogen. Andere sahen die Dinge etwas lockerer, wollten zumindest, wie Immanuel Kants Zeitgenosse Benjamin Constant, die Notlüge aus „Menschenliebe“ gestatten.
Noch weiter ging Arthur Schopenhauer. Konrad Paul Liessmann zitiert: „Die Lüge kann ein Mittel sein, um sich gegen Angriffe zu wehren und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.“ Vor allem aber ist für den großen Pessimisten das bloße Verweigern einer Aussage kein Unrecht. Wer schweigt, lügt nicht. Braucht die Macht die Lüge? Ja, weil es kein Leben ohne Lüge gibt. So sah es zumindest Friedrich Nietzsche. Um an der Welt nicht zu verzweifeln, zeichnen viele Menschen von dieser ein geschöntes Bild, das ihren Interessen entspricht.
Lügner müssen einfallsreich sein
Konrad Paul Liessmann betont: „Und nicht selten verschließen wir die Augen vor einer Wahrheit, die unsere Ideale konterkariert und von der wir fürchten, dass sie womöglich in falsche Hände gerät. Damit belügen wir uns selbst.“ Friedrich Nietzsche war kein Verächter der Lüge, eher im Gegenteil. Seiner Meinung nach macht erst die Lüge die Menschen kreativ, stachelt ihre Phantasie und ihr Denkvermögen an. Lügner müssen einfallsreich sein. Sie dürfen sich nicht in Widersprüche verwickeln, ihre Geschichten sollen plausibel klingen. Und sie benötigen ein tadelloses und geschultes Gedächtnis.
Das Medium der Lügner ist nicht die plumpe, leicht durchschaubare Unwahrheit, sondern das Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, Halbwahrheiten, Übertreibungen, Auslassungen und Zweideutigkeiten. Konrad Paul Liessmann blickt zurück: „Das hatte schon Sokrates dazu gebracht, den raffinierten Lügner Odysseus für fähiger und besser zu halten als den wahrhaften, aber einfältigen Achill.“ Der Lügner hat immer einen Vorsprung. Er kennt auch die Wahrheit. Alle anderen tappen im Dunklen. Quelle: „Lauter Lügen“ von Konrad Paul Liessmann
Von Hans Klumbies