Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollte die Kunst, wollte die Literatur nicht nur schonungslos die Realität abbilden, aus dem Gefängnis der Rücksichtsnahmen ausbrechen und einen neuen Frei- und Gestaltungsraum erobern – sie wollte sich darüber hinaus Realität schaffen. Jürgen Wertheimer nennt Beispiele: „Charles Dickens war es gelungen, die Sozialgesetzgebung seines Landes – etwa was die Kinderarbeit betrifft – entscheidend zu beeinflussen. Leo Tolstoi errichtete Schulen und revolutionierte die Agrarwirtschaft, Émile Zola trat 1898 in der sogenannten Dreyfus-Affäre mit dem offenen Brief „J´accuse“ für den verleumdeten Offizier jüdischer Herkunft ein und wurde zu einer Gefängnishaft verurteilt.“ Émile Zola floh nach England und kehrte 1899 amnestiert und gefeiert zurück; als er 1902 starb wurde er im Pantheon beigesetzt. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.
Gustave Flaubert war eines der Vorbilder von Émile Zola
Sein Werk steht ganz und gar im Kontext des französischen Denkstils: ob „Encyclopédie“ oder „Comédie Humaine“ – stets war es darum zu tun, ein Phänomen im Ganzen systematisch auszuleuchten, es in seiner Totalität zu erfassen. Jürgen Wertheimer erklärt: „So kann man Émile Zolas immerhin zwanzigbändigen Romanzyklus „Les Rougon-Macquart“, der die Sozialgeschichte einer Familie über fünf Generationen verfolgt, durchaus als naturalistisches Gegenstück zu Honoré de Balzacs „Comédie“ sehen.“
Seine im Kern antiidealistische und antiromantische Konzeption steht in der Tradition und sieht sich in der Tradition: Gustave Flaubert war eines seiner Vorbilder. Auch Honoré de Balzac taucht auf. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Alle als Kronzeugen einer Ästhetik der kritischen Analyse und der systematischen Beobachtung. In seinem Essay „Du roman. Le sens du réel“ nennt Zola Instrumente wie skrupulöse Untersuchung, Quellen, Dokumente, Notizen, Beobachtungen, um die literarischen Wirklichkeitssinn zu schulen.“
Der Romancier macht aus Figuren lebendige Kreaturen
Material? Alles. Naturalistischer Roman, das heißt für ihn Wirklichkeitssinn und persönlicher Ausdruck. Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Und tatsächlich verändert sich die Terminologie und das Wortfeld der Theorie. Das Ich des Erzählers wird gleichzeitig Sensor und Seismograph. Es tritt in den Dienst wissenschaftlicher Gesetze und drängt sich als deren Medium zugleich in den Vordergrund.“ Neben Beobachtung und Dokumentation sind daher Obsession, Schöpfung, Evokation zentral.
Dazu kommt die Beseelung der realistischen Szene durch die persönliche Wahrnehmung des Romanciers, der aus Figuren lebendige Kreaturen macht. Jürgen Wertheimer erläutert: „Ein naturalistischer Autor, der so schreibt, nicht mit Tinte, sondern mit Blut und Galle, schreibt mit dem ganzen Körper, und der Text erzählt mehr als eine Geschichte, ist menschlicher Aufschrei und Menschenversuch zugleich, sein Material sind pulsierende Fleischklumpen.“ Der Autor unterwirft seine Figur einer Reihe von Prüfungen, indem er sie durch verschiedene Milieus gehen lässt, um daran das Funktionieren des Mechanismus ihrer Leidenschaft zu demonstrieren.“ Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer
Von Hans Klumbies