Die Literatur des 16. Jahrhunderts kann kaum in ihrer Vielfalt gewürdigt werden, wenn nicht eine Voraussetzung erfüllt ist: die Beschreibung der Reformation, die sich bald nach ihrem Beginn in eine Fülle von Reformationen aufspaltete, in ihrer europäischen Dimension. Ein zutreffendes Bild der Reformation selbst bloß in Deutschland würde verfehlen, wer sie als einzigartiges deutsches Ereignis beschriebe, das losgelöst vom europäischen Protestantismus und der gleichzeitigen Geschichte Europas denkbar wäre. Zwar war Martin Luther der Initiator der Vorgänge, die ab 1517 für anderthalb Jahrhunderte die religiöse und auch politische Entwicklung fast aller Staaten stark bestimmten, und ihm fiel auch für das Jahrzehnt der Frühreformation (1517 – 1526) die hegemoniale Position in der Bewegung zu, die allmählich zur Protestantisierung wichtiger Regionen des Kontinents führte.
Die Reformationsliteratur sorgt für die Verbreitung der Reformation
Doch es ist nicht legitim, die damit zusammenhängenden Ereignisse lediglich auf Martin Luther zurückzuführen. Sie entstanden zum Teil ohne sein Zutun in seinem engeren und weiteren Umkreis, mit der Folge der Herausbildung weiterer Brennpunkte der reformatorischen Gesamtentwicklung. Die komplexe Geschichte der Reformation in ihren sämtlichen europäischen Ausprägungen hat ihre Entsprechung in der vielschichtigen Literaturgeschichte des Zeitalters. Wo immer sich die Reformation etablierte, machte sie auch Literaturgeschichte.
Die Reformationsliteratur ist der umfängliche Fundus literarischer Werke, die sich in der einen oder anderen Weise auf die Reformation bezogen. Sie half, die Reformation zu initiieren, und stützte sie von den Anfängen an, sie sorgte für die Verbreitung der reformatorischen Lehre und Politik. Kraft desselben Mediums äußerte sich zudem die Gegenbewegung, die sich aus schwachen Anfängen später vehement entfaltete, die Gegenreformation, die sich unter anderen in einer ausgesprochen gegenreformatorischen Literatur bekundete.
Philipp Melanchthon gehörte zu den engsten Mitstreitern Martin Luthers
In ihrer überwiegenden Zahl betätigten sich die Reformatoren immer auch als Schriftsteller, fast alle schrieben, benutzten das geschriebene Wort ebenso wie das – von manchen freilich bevorzugte – gesprochene in der Predigt. Einige dieser literarisch produktiven Reformatoren sind schon im Umkreis von Martin Luther zu finden, andere darüber hinaus in den von der Reformation ergriffenen Ländern und Städten des deutschen Reichs und nicht zuletzt in den angrenzenden Territorien: in Skandinavien und in Westeuropa sowie mit einem weithin ausstrahlenden Zentrum in Genf.
Der engste Mitarbeiter Martin Luthers und sein bekanntester Wittenberger Mitreformator war Philipp Melanchthon (1497 – 1560). In seiner Person symbolisierte er den Wechsel einer Gruppe von Humanisten zur Sache der Reformation. Seine Schriften trugen wesentlich zur Grundlage der reformatorischen Lehre bei. Er schuf für den Protestantismus unter anderem die fundamentale Lehrschrift, die in der evangelischen Kirche bis zur Gegenwart Gültigkeit besitzt: die komprimierte „Augsburgische Konfession“, die er 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg vorlegte. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler
Von Hans Klumbies