Die Leistungsgesellschaft ist irritiert

Verschwörungserzählungen sind für Richard David Precht Früchte einer irritierten Leistungsgesellschaft. Ist man dabei, so ist man Teil einer Wissenselite. Und wo es darum geht, zu einer Gegen-Elite zu gehören, welche die etablierten Eliten als Heuchler enttarnt, kommt es auf Plausibilität nicht an. Hauptsache, das Elitegefühl ist da. Ohne dieses will auch mancher vergrätze Rentner und mancher Empfänger von Sozialleistungen nicht mehr auskommen. Richard David Precht stellt fest: „Leistungsgesellschaften zerbröckeln dadurch, dass die soziale Durchlässigkeit austrocknet, durch Vererben verkrustet und Leistung durch Erfolg ersetz wird.“ Die zivilgesellschaftliche Verbundenheit wird so auf eine harte Probe gestellt. Argwohn gegen Mitmenschen speist sich zumeist aus einem Mangel an echter Resonanz, der die vermisste Anerkennung nicht besser ersetzt als Pornografie eine erfüllte Sexualität. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

In einer sozial normierten Lebenswelt wächst die Gereiztheit

Dünnhäutigkeit und Unduldsamkeit entspringen aus der gleichen Quelle. Diese ist gepaart mit einer Gereiztheit in einer zunehmend sozial normierten Lebenswelt. Wenn sich die Gereizten und Empörten gegenüber dem Staat und dem Gemeinwohl entpflichten, so motiviert sie nicht nur der gefühlte Identitätsverlust. Tatsächlich gründet die Empörung wesentlich in ökonomischen Entwicklungen, von denen selbst die Erosion der Leistungsgesellschaft nur ein Aspekt ist.

Das Grundproblem dürfte jedoch noch tiefer sitzen. Richard David Precht erläutert: „Und es betrifft jenes komplizierte Gefilz einander widerstrebender Kräfte, die man liberal-demokratische Demokratien nennt.“ Denn nicht nur der Staat, auch die freie und soziale Markwirtschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. In diesem Sinne hatte schon Wilhelm Röpke, einer der Chefdenker der Freiburger Schule, den Markt als „Moralzehrer“ bezeichnet. Die Idee, dass das Vorteilsstreben des Einzelnen und die kalte Rationalität von Markprozessen logischerweise und unweigerlich zum Wohl aller oder zumindest der meisten führe, ist eine ideologische Verblendung.

Bürgersinn und Eigensinn sind widerstreitende Kräfte

Ohne die Voraussetzung sozialer Werte und Tugenden und ohne Mindeststandards der Fairness und Vertrauens bleiben die weitgestreuten Segnungen der Marktwirtschaft aus. Dann dreht das System hohl, wie deutlich ablesbar an der Finanzmarktkrise von 2007/2008. Demokratischer Bürgersinn und kapitalistisch gezüchteter Eigensinn sind nicht schlichtweg ergänzende, sondern auch einander widerstreitende Kräfte. Das kann man schon in den Analysen von Alexis de Tocqueville erkennen.

Richard David Precht blickt zurück: „Der junge französische Adelige hatte 1831/32 die USA bereist, die einzig funktionierende Demokratie der damaligen Zeit.“ Mit feinstem Gespür für die Befindlichkeiten, Mentalitäten und die Gedankenwelt der Bürger sezierte er die Vereinigten Staaten mit hellsichtiger, mitunter nahezu hellseherischer Präzision. Auf der Sonnenseite sieht Alexis de Tocqueville, dass die Menschen in den USA eigenverantwortlicher handeln als in den Aristokratien Europas. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies

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