Die Idee der Berufung ist eine große Illusion

Wer heute das Wort „Berufung“ hört, denkt zum Beispiel an einen Menschen wie Franz von Assisi. Er konnte nicht anders, als dem Ruf Gottes zu folgen. Ähnliche Berufungen kennt man von Paulus, Augustinus, Blaise Pascal und anderen Bekehrten in und außerhalb der Bibel. Gleichzeitig hat der Begriff „Berufung“ auch einen sehr zeitgenössischen Klang. Viele Menschen, vor allem junge, fragen sich, wie sie wohl ihre Berufung finden könnten. Wenn Rolf Dobelli so etwas hört, muss er zuerst einmal tief schlucken, denn die Berufung ist ein Relikt aus dem Christentum: „Für jemanden, der nicht an Gott glaubt, klingt der Begriff ein bisschen wie eine Wahnvorstellung.“ Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

Die Abhängigkeit von einer Berufung führt zu keinem guten Leben

Natürlich denken die Leute, die heute nach ihrer Berufung suchen, nicht mehr daran, sich vom weltlichen Leben abzuwenden. Im Gegenteil, es geht ihnen vielmehr um eine noch stärkere Hinwendung. Rolf Dobelli erläutert: „Sie tragen die romantische Vorstellung in sich, im Innersten eines jeden Menschen sei die Knospe dessen angelegt, was sich dereinst zur Blüte ihres Lebens entfalten werde.“ Deshalb horchen sie angestrengt in sich hinein – in der Hoffnung, den Ruf einer lebenserfüllenden Tätigkeit zu vernehmen.

Diese Lebenseinstellung ist gefährlich, denn die Idee der Berufung ist eine der größten Illusionen der Gegenwart. Der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell kannte diese Gefahr und schrieb deshalb: „Eines der Symptome für einen sich nähernden Nervenzusammenbruch ist der Glaube, die eigene Arbeit sei furchtbar wichtig.“ Genau das ist die Gefährlichkeit der Berufung: dass man sich selbst und seine Arbeit zu wichtig nimmt. Wer sich von der Erfüllung seiner angeblichen Berufung abhängig macht, wird kein gutes Leben haben.

Eine Berufung ist nichts anderes als ein Berufswunsch

Rolf Dobelli weiß: „Die romantische Vorstellung, dass Berufung glücklich macht, ist falsch. Wer verbissen seiner Berufung folgt, ist nicht glücklich, sondern nur verbissen – und mit ziemlicher Sicherheit bald frustriert.“ Schlicht deshalb, weil die meisten Berufungen an unrealistische Erwartungen geknüpft sind. Wer sich aufmacht, einen Jahrhundertroman zu schreiben, eine Weltrekord aufzustellen, eine neue Religion zu gründen oder die Armut endgültig zu besiegen, hat vielleicht eine Chance von eins zu einer Billion.

Man darf Rolf Dobelli allerdings auch nicht falsch verstehen: Es ist durchaus okay, große Ziele zu verfolgen – aber nur unter der Bedingung, dass man ein kühles, distanziertes Verhältnis dazu bewahrt. Wer dagegen mit blinder Leidenschaft seiner Berufung hinterherrennt, wird garantiert ein unglückliches Leben haben. Oft behaupten Menschen, sie hätten keine andere Wahl, als X zu tun. Das passt zwar in die romantische Rhetorik, ist aber im Grunde Quatsch. Rolf Dobelli rät nicht auf innere Stimmen zu hören. Denn eine Berufung ist nichts anderes als ein Berufswunsch. Quelle: „Die Kunst des guten Lebens“ von Rolf Dobelli

Von Hans Klumbies