Die geistesgeschichtlichen Quellen des Anarchismus

Für den Politologen Peter Lösche sind die Ursprünge und Vorläufer des Anarchismus ebenso zahlreich wie die sozialen, geistesgeschichtlichen und politischen Bedingungen, unter denen der Anarchismus entstanden ist. Geistesgeschichtlich wird der Anarchismus laut Peter Lösche aus zwei Quellen gespeist, die selbst miteinander verbunden sind. Er schreibt: „Zunächst ist er ein Produkt der Aufklärung: Unter Anlehnung an naturrechtliche Vorstellungen ermöglicht der Rationalismus überhaupt erst ein Gesellschaftskonzept, das die in der Gegenwart vorhandene menschliche Entfremdung für real aufhebbar hält.“ In der Abwendung vom Reich Gottes und des Feudalismus wird die Einzigartigkeit des Individuums entdeckt. Der Liberalismus und der Anarchismus haben an dieser Stelle die gleiche Wurzel. Der Anarchismus allerdings treibt den Individualismus bis zu seiner letzten Konsequenz. Die zweite geistesgeschichtlich Quelle des Anarchismus sieht Peter Lösche, ähnlich dem Marxismus in seinen Ursprüngen, in der Hegel-Kritik.

Das antiinstitutionelle Element im Anarchismus

Zu den politischen Bedingungen des Anarchismus zählt Peter Lösche die tendenzielle Trennung von Staat und Gesellschaft, durch die der Staat überhaupt erst zum Ziel anarchistischen Handelns und Verhaltens werden konnte. Das antiinstitutionelle Element im Anarchismus war häufig eine Reaktion auf die Allgegenwärtigkeit von Polizei, Bürokratie und Militär im täglichen Leben eine Antwort auf Regierungssysteme, in denen die Teilnahme des einzelnen Bürgers an politischen Entscheidungen äußerst erschwert, wenn nicht sogar unmöglich war.

Zu den sozialgeschichtlichen Bedingungen des Anarchismus scheint für Peter Lösche zu gehören, dass er in jenen Gesellschaften entstanden ist, in denen die politische Emanzipation des Bürgertums verspätet erfolgte und feudale Strukturen bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert fortwirkten. Typologisierend unterscheidet Peter Lösche verschiedene Formen des Anarchismus. Er erklärt: „So können Agrar- und Handwerkeranarchismus als zwei Arten des klassischen oder älteren Anarchismus begriffen werden, nämlich als soziale Protestbewegungen an der Schwelle vom Feudalismus zum Kapitalismus.

Die Arbeiterbewegung grenzte sich vom Anarchismus ab

Für Peter Lösche ist offenkundig, dass eine Strömung im Anarchismus, der so genannte kollektivistische Anarchismus, direkt aus der frühsozialistischen Tradition gespeist wurde. Einer der Frühsozialisten, der auch als Anarchist galt, war Pierre-Joseph Proudhon. Die marxistische Arbeiterbewegung lag mit den Anarchisten von Anfang an in Streit und sah in ihnen teilweise eine scharfe Konkurrenz. Peter Lösche schreibt: „Die organisierte sozialistische wie kommunistische Arbeiterbewegung gelangte – zum Beispiel in Deutschland und Russland, später in der Sowjetunion – in der Abgrenzung von den Anarchisten zu organisatorischer Stabilität und zu ihrem Selbstverständnis.“

Aufgrund der politischen Konstitutionsbedingungen sind laut Peter Lösche anarchistische Gruppierungen und Rätebewegungen vergleichbar. Er erklärt: „Beide entstanden dort, wo das politische System – und unter Umständen auch die etablierten traditionellen Arbeiterorganisationen – über ein geringes Integrationspotential gegenüber unterprivilegierten Gesellschaftsgruppen, vor allem der Arbeiterschaft, verfügten.“ In den sechziger Jahren des vergangen Jahrhunderts erleben der Anarchismus unter der Studentenschaft eine teilweise Renaissance.

Von Hans Klumbies