Die Freiheit erschafft die Welt und ist unberechenbar

Wie kein anderer Philosoph vor ihm und nach ihm erst wieder Hannah Arendt hat Jean-Jacques Rousseau das Anfangenkönnen als die schlechthin belebende Kraft der Freiheit verstanden. Rüdiger Safranski erklärt: „Das ruhige Daseinsgefühl empfängt die Welt, die Freiheit aber erschafft sie. Freiheit bedeutet handeln und das Sein wachsen lassen, im Guten wie im Bösen. Durch Freiheit gewinnt man ein Selbstsein, das nicht in sich verschlossen bleibt, sondern aus sich herauskommt.“ Freiheit ist das schlechthin Überraschende. Freiheit macht es sogar möglich, sich selbst zu überraschen. Freiheit ist unberechenbar. Weil nun Jean-Jacques Rousseau so intim vertraut war mit der inneren Unabsehbarkeit und Unbestimmtheit der inneren Freiheit, konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass es draußen die vielen Freiheiten der Anderen gibt und dass sich deshalb dort ungeheure Unbestimmtheiten auftun. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Jean-Jacques Rousseau fühlte sich von Feinden umzingelt

Die Lust an der eigenen Freiheit schlägt um in die Angst vor der Freiheit der Anderen – jedenfalls bei Jean-Jacques Rousseau. Rüdiger Safranski weiß: „Er – der ja auch wirklich von staatlichen und kirchlichen Stellen verfolgt wurde – fühlte sich noch weit darüber hinaus umzingelt, wie in einer Welt von Feinden.“ Die Freiheit also, von innen als Reichtum des Spontanen und Unberechenbaren erlebt, begegnet von außen als Gefahr. Der Genuss der eigenen Freiheit verbindet sich bei Rousseau mit der Angst vor der Freiheit der Anderen.

Durch die Anderen wird die Welt draußen unverlässlich und undurchsichtig. Deshalb ist für Jean-Jacques Rousseau der Gedanke verführerisch, sich die Freiheit des politischen Gesamtkörpers als einen großen Singular vorzustellen. Die eine Freiheit. Welche Freiheit soll das sein? Rüdiger Safranski erläutert: „Es kann nur die sein, die er von innen her kennt, und so kennt er nur eine: seine.“ Dabei handelt es sich also um eine Gesellschaft nach seinem Bilde.

Der „volonté générale“ ist eine Gestalt des erweiterten Selbst

So kommt es im „Contrat social“ zu jener berühmten Konstruktion des „volonté générale“ als einer Gestalt des erweiterten Selbst. Rüdiger Safranski fügt hinzu: „Aus Angst vor der Freiheit der vielen wird die eine ominöse Freiheit des Ganzen postuliert. Die Seele der Gesellschaft ist dann nicht die Verschiedenheit, die in ihr bewahrt wird, sondern die Einheit, in der sich alle Verschiedenheit auflöst.“ Jean-Jacques Rousseau litt nicht nur an Verfolgungswahn, er wurde ja auch tatsächlich verfolgt.

Im Jahr 1762 musste er vor dem Haftbefehl des Parlaments in Paris fliehen, und auch in Genf durfte er nicht bleiben. Rüdiger Safranski ergänzt: „Aus seinem Schweizer Dorfasyl in Môtiers wurde er mit Steinwürfen verjagt, ebenso aus seiner Zuflucht auf der St. Petersinsel im Bieler See, und auch in den letzten Jahren in Paris hing das Damoklesschwert einer möglichen Verhaftung immer noch über ihm.“ Trotzdem erlebte er die gefühlte Verfolgung bedrohlicher als die wirkliche. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski

Von Hans Klumbies